Die Herausforderungen der Gegenwart ver­langen neue Lösungen. Bereits in den frühen 1950er Jahren erkannte der Psychologe Carl R. Rogers einen gesellschaftlichen Bedarf an Kreativität, den er nicht gedeckt sah, um der Konformität, gleich ob in der Bildung, der Forschung, der Wirtschaft oder der Freizeit­gestaltung, zu entfliehen1. Kreativität als schöpferische Praxis, die es uns erlaubt, mit der Veränderlichkeit der Verhältnisse umzu­gehen und das Neue hervorzubringen, ge­winnt an globaler Bedeutung und ist längst Gegenstand politischer Handhabung. In den hoch entwickelten Industriegesellschaften sind die immateriellen Ressourcen Wissen und Kreativität zu einem zentralen Wirt­schaftsfaktor herangereift. Um den Begriff der Kreativität entwickelt sich mittlerweile ein ganzes Geflecht von Diskursen, Prakti­ken, Instrumenten und Identitätsformen2, das ordnend auf Wirtschaft und Gesellschaft einwirkt.

Die Kultur- und Kreativwirtschaft erhebt keinen Alleinanspruch auf Kreativität. Keine andere Branche aber organisiert sich um diesen Begriff herum, deren Anliegen die Produktion ästhetischer Erfahrungen ist. Ge­meint sind Erfahrungen, die keiner Zweck­rationalität unterliegen, sondern ihrer selbst willen gemacht werden; die nicht auf Sach­lichkeit und affektneutrale Erkenntnisgewin­nung angelegt sind, sondern einen Reiz aus­zulösen beabsichtigen, der nachschwingt, der uns Menschen emotional fängt. Die ästhetische Wahrnehmung ist Selbstzweck und dient nicht allein der Welterschließung durch Sinnesaktivität.

Die (politischen) Erwartungen, die an die Branche herangetragen werden, sind enorm. Möglicherweise auch deswegen, da der Krisenhaftigkeit unserer Zeit eine „Verein­deutigung der Welt“3 gegenübersteht, die nach Komplexitätsreduktion und Erklärbarkeit strebt, so analysiert der Arabist Thomas Bauer. „Wir kultivieren wie nie zuvor die Strategien der Disambiguierung“4, trotz des Anscheins zunehmender Vielfalt die zu wachsender Einfalt führen. Verlorengeht die Fähigkeit, Widersprüche auszu­halten, sich mit dem Uneindeutigen, dem Spannungsvollen, dem Beziehungsreichen auseinanderzusetzen und sich in dieser komplexen Welt zu orientieren, sie zu be- und verarbeiten. Vormoderne Gesellschaf­ten, so betont Bauer, haben diese Mehrdeutigkeit hingegen „nicht nur geschätzt und gepflegt, sondern regelrecht geübt“.5 Die Kunst in ihren unterschiedlichen Gattungen war hier ein wichtiges Trainings­feld. In einer zunehmend vereindeutigten Welt gilt es Räume der Begegnung und Auseinandersetzung zu schaffen, die über das Zweckhafte hinaus Perspektivviel­falt und Friktion zulassen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft eröffnet diese Räume und vermag es mittels der ihr eigenen For­schungs- und Entwicklungspraxis, Vielfalt in der Beantwortung der Krisen der Zeit herzustellen.

Die nachfolgenden, vom Bayerischen Zentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft als Ersteller dieses Berichts erarbeiteten Handlungsempfehlungen setzen beim vorherigen Kultur- und Kreativwirtschaftsbe­richt Bayerns an, berücksichtigen die gemachten Fortschritte, adressieren Lücken in der Bearbeitung und spiegeln Bedarfe, die sich aus neueren Entwicklungen, ins­besondere technologischen Entwicklungen, heraus ergeben. Zudem greifen sie Hinweise der Autorinnen und Autoren dieses Berichts auf, wie die Branche weiter zu stärken wäre. Vier Handlungsfelder treten dabei hervor, in denen die einzelnen Empfehlungen aus­geführt werden.

Verankerung der Ästhetik im bayerischen Innovationssystem

Die Kultur- und Kreativwirtschaft in Bayern ist nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern da, wo ihre Arbeits-, Produktions- und Konsumweisen in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung umschlagen, auch eine prägende Kraft des Wandels.

Gegenstand und Differenzierungsmerkmal kultur- und kreativwirtschaftlicher Wert­schöpfung ist die Produktion ästhetischer Reize. Die Ästhetik im umfassenden Wort­sinn eröffnet dem Menschen Zugang zur Welt. Als Verbindungsebene zwischen dem Inneren (Organismus) und Äußeren (Um­welt) ermöglicht sie uns Erkenntnis über das Gegenwärtige und Orientierung. In ihrer Unausweichlichkeit droht sie als Gegen­stand der Betrachtung und Verhandlungs­sache dennoch aus dem Blick zu geraten. Umso bedeutender ist es, dass mit der Neuen Europäischen Bauhaus Initiative die Europäische Kommission den Begriff der Ästhetik, in all seiner Sperrigkeit, prominent in den politischen Diskurs eingeführt und die Hervorbringung des ästhetisch Neuen als Ziel markiert hat. Die Initiative steht im Arbeitszusammenhang der Nachhaltigkeit und verfolgt die gestalterisch ansprechen­de Umsetzung eines ökologisch, sozial und ökonomisch prosperierenden Europas. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist angerufen als Quelle ästhetischer Kreativität, Innova­tion und Wertschöpfung.

Empfehlung 1

Erweiterung der Transformation zur ästhetischen Aufgabe

Die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft ist nicht allein eine Frage der technischen Lösbarkeit, sondern ebenso der kulturellen Umsetzung und gesellschaftlichen Akzep­tanz. Aufgrund ihrer besonderen Sensibili­tät für das menschliche Empfinden, ihrer Fähigkeit, das Unbestimmte zu bestimmen, Vielfalt zuzulassen, Widerstände aufzubre­chen und affektvolle Lösungen zu entwi­ckeln, wird die Kultur- und Kreativwirtschaft zunehmend als Ressource der Transforma­tion beansprucht. Der Wandel verlangt, an die Menschen heranzutreten, sie mit ihren Bedürfnissen wahrzunehmen und gestaltend einzubinden in den kulturellen Prozess des Wandels. Für die bayerische Kultur- und Kreativwirtschaft in Stadt und Land ergeben sich hieraus neue Interventions- und Ge­staltungsräume, unternehmerische Perspek­tiven, Beschäftigungs- und Wachstumspo­tenziale. Ihre Präsenz, Ideen und Lösungen fördern die Innovationdynamik über die Grenzen der Branche hinaus und tragen zur Attraktivierung des Wirtschaftsstandorts Bayern bei.

Empfehlung 2

Verschränkung von Kultur und Technik

Bayern zählt zu den führenden Innovations­standorten in Europa und der Welt. Sichtbar werden hier die hohen Forschungs- und Entwicklungsleistungen des Freistaats, die dichte Forschungsinfrastruktur im Bereich der Natur- und Ingenieurswissenschaften, die enge Verzahnung mit der Wirtschaft, deren Verwertungskompetenz wissen­schaftlicher Erkenntnisse, die Relevanz der verfügbaren Programme zur Förderung technischer Innovationen ebenso wie der Aufbau tragfähiger Gründungsökosysteme in Nachbarschaft zu relevanten Wissens- und Kompetenzträgern. Der Freistaat verfügt zugleich aber auch über ein reiches Kultur­erbe und darin gespeicherte Kompetenzen, (handwerkliche) Fertigkeiten und Problem­bewältigungsstrategien, ein vielfältiges Kulturleben, starke Human- und Geistes­wissenschaften und eine breit etablierte Kultur- und Kreativwirtschaft. Damit vermag Bayern, wie kaum ein anderes Bundesland, als Teil seiner strategischen Landesprofi­lierung eine neue Einheit von Kultur und Technik auszubilden. Die strenge Trennung des Ästhetischen und Zweckrationalen, die in der frühen Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzte und förderpolitisch nachhallt, gilt es aufzuweichen zugunsten einer integra­tiven Förderung von Innovationen, die dem Umstand einer zunehmend verschränkten Wertschöpfungspraxis Rechnung trägt. Den engagierten Technologietransfer gilt es dabei mit einem Transfer ästhetischer Kreativität zu beantworten. In der engen Verbindung technischer und ästhetischer Forschungs- und Entwicklungsarbeit und der Verknüpfung von High und Creative Tech (computerbasierte Modellierungen und Simulationen, erweiterte Realität, Künstliche Intelligenz etc.), liegen erhebliche Potenziale für neue Produkte, Dienstleitungen, Ge­schäftsmodelle und zukunftsfähige Arbeits­plätze. Die Ausschöpfung dieser Potenziale bedingt nicht zuletzt die Zugänglichmachung weiterer Instrumente der Innovations- und Gründungsfinanzierung.

Strategische Profilierung

Die Europäische Union hat unlängst die Kreativwirtschaft als strategisch relevan­tes Ökosystem in ihrer Industriestrategie verankert und sie damit nicht nur symbo­lisch gestärkt, sondern als wirtschafts- und innovationspolitisches Gestaltungsfeld schwerpunktmäßig etabliert. Eine vergleich­bare strategische Positionierung ist auf deutscher Ebene nicht gegeben. Damit droht die Kultur- und Kreativwirtschaft aus dem politischen Sichtfeld zu verschwinden, da, wo die zielgerichtete Einbindung in politische Vorhaben und Maßnahmen fehlt. Dies zeigt sich etwa bei dem im Rahmen von „Next Generation EU“ eingereichten „Deutschen Aufbau- und Resilienzplan“ (DARP).6 Das europäische Aufbauinstrument „Next Ge­neration EU“ wurde 2021 zur Überwindung der Pandemiefolgen und Modernisierung Europas eingerichtet und hat ein Volumen von 750 Milliarden Euro. Deutschland stehen aus diesem Topf etwa 25 Milliarden Euro zu. Ins­gesamt 22 nationale Pläne wurden durch den Europäischen Rat bestätigt. 16 davon beinhalten Maßnahmen zur Unterstützung der Kultur- und Kreativwirtschaft in einem Gesamtumfang von etwa 10 Milliarden Euro. Die­se dienen dabei vor allem der Bearbeitung der grünen und digitalen Transformation, der Förderung von Innovation und Inter­nationalisierung ebenso wie der Stärkung sozialer Kohäsion.7 Der deutsche Plan hin­gegen spart die Branche gänzlich aus. Einzig Maßnahmen zur Förderung des klimafreund­lichen Bauens schaffen einen Bezugspunkt. Nicht einmal semantisch ist das Feld der Kreativität abgebildet, was umso bemer­kenswerter ist, als auch der Schwerpunkt des DARP „auf der Bewältigung der beiden großen Herausforderungen unserer Zeit, des Klimawandels und der digitalen Transforma­tion“ liegt. Aufgaben also, die in besonderer Weise Offenheit, Beweglichkeit, Originalität und die ästhetische Innovationskraft der Kultur- und Kreativwirtschaft erfordern. Der DARP hingegen reduziert sie auf ihre techni­sche Lösbarkeit.

Angeregt werden mit den in diesem Bericht ausgeführten Handlungsempfehlungen dabei keine exklusiven, sehr wohl aber komple­mentären Gestaltungsperspektiven für die Kultur- und Kreativwirtschaft, die, wie wei­ter oben ausgeführt, die strategische Aus­bildung einer neuen Einheit von Kultur- und Technik zum Ziel haben (s. Empfehlung 2). Gewürdigt würde so der ästhetische Beitrag für ein Gelingen der Transformation (grün, digital, sozial), aus dem heraus sich neue In­vestitionsmöglichkeiten in Wachstums­möglichkeiten für die Branche ergäben.

Empfehlung 3

Entwicklung bayerischer Kultur-und Kreativwirtschaftsstrategie

Vor dem Hintergrund der Gewichtung der Kultur- und Kreativwirtschaft im Strategie­prozess auf europäischer Ebene sollte ge­prüft werden, inwieweit die oben beschrie­bene produktive Einbindung der Branche in industrie- bzw. wirtschaftspolitische Strate­gien und Aufgabenstellungen auch auf Bun­des- und Landesebene aufgegriffen werden muss, wie das etwa in Großbritannien oder Frankreich der Fall ist (gehebelt wird hier das Potenzial der Branche mit der „Creative Industries Sector Vision: A joint plan to drive growth, build talent and develop skill“8 bzw. der „Stratégie d’accélération des industries culturelles et créatives: innovation et culture face aux défis des transitions numérique et écologique“9). Mit dem Bayerischen Zentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft verfügt der Freistaat über eine Kompetenz­stelle, dessen Auftrag über die Beratung, Vernetzung und Aktivierung der Branche hinaus auch die Identifikation von Ansatz­punkten zur Zusammenarbeit mit Industrie und Technologie umfasst. Dabei geht es um die Nutzbarmachung der Branche bei der Bewältigung der aktuellen Innovations- und Transformationsaufgaben. Idealerweise sollte das Zentrum in Zusammenarbeit mit relevanten Stakeholdern zur möglichst effek­tiven und den veränderten Herausforderun­gen angepassten Erfüllung dieses Auftrags auch in einen Strategieprozess zur Weiter­entwicklung seiner Aktivitäten eintreten.

Empfehlung 4

Verankerung der Kultur- und Kreativwirtschaft in bayerischer Innovationsstrategie

Die Bayerische Innovationsstrategie 2021 bis 2027 ist dazu angelegt, Bayern als führenden Innovationsstandort in Europa und der Welt zu sichern und auszubauen. Fokussiert ist sie auf die Incentivierung von Innovationen, „die ganzheitliche Lösungsan­sätze für wirtschaftliche, wissenschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Heraus­forderungen bieten“10. Sie ist ausdrücklich keine Strategie, die allein einzelne Techno­logien fördert, sondern systemisch angelegt. Bearbeitet wird die Transformation von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft und ihre konstituierenden Elemente (Techno­logien, Regulationen, Infrastrukturen, Wert­schöpfungsketten, Politikmaßnahmen …).

Auffallend ist gleichwohl, dass der Fokus auf rein technologischen Themen liegt, während die Rolle der Kultur- und Kreativwirtschaft abstrakt bleibt. Sie findet zwar Erwähnung unter der Überschrift „Cross-Innovation“ als Faktor, den es nutzbar zu machen gilt bei der Entwicklung neuer Lösungen innerhalb der fünf Spezialisierungsfelder: Digitalisierung, Energie, Mobilität, Life Sciences, Materialien und Werkstoffe. Diese Rolle sollte aber in der nächsten Fortschreibung der Bayerischen Innovationsstrategie weiter konkretisiert und die Branche bei der weiteren Ausgestaltung der benannten Handlungsfelder Forschungs­infrastruktur, Innovationsförderung, Er­kenntnistransfer und Gründungsförderung mit bedacht werden.

Stärkung kultur- und kreativwirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit

Die sich stetig wandelnden Umweltbedin­gungen stellen auch die bayerische Kul­tur- und Kreativwirtschaft vor besondere Herausforderungen. Es gilt, das unterneh­merische Potenzial zu sichern und weiter auszubauen. Dazu zählen die Vermittlung und Ausbildung neuer Kompetenzen, die Förderung einer neuen Gemeinschaftlichkeit, die Schaffung neuer Räume als auch die Er­schließung der europäischen Perspektive.

Empfehlung 5

Ausbildung neuer Kompetenzen

Tradierte Berufsbilder verlieren zunehmend an Eindeutigkeit, da, wo sich Wertschöp­fungszusammenhänge verschieben und die Digitalisierung bestehende Arbeits-, Pro­duktions- und Konsummuster durchbricht. Immer mehr rückt damit die Entwicklung von Fähigkeiten in den Fokus, die es den Kultur- und Kreativschaffenden erlauben, sich flexibel in neue Arbeitszusammenhänge einzufinden und produktiv mit den Möglich­keiten des technischen Wandels umzu­gehen. Die Dringlichkeit des Anliegens der Kompetenzentwicklung findet nicht zuletzt Ausdruck in der europäischen Kompetenz­agenda und des daran angehängten „Pact for Skills“ – einer Übereinkunft vielfältiger öffentlicher und privater Stakeholder über die Notwendigkeit qualifizierter Weiterbil­dungsinvestitionen. Ziel ist die Förderung einer Kultur des lebenslangen Lernens und die Stärkung der Erwachsenenbildung. Zu den benötigten Fähigkeiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft zählen dabei nicht nur berufsspezifisch handwerkliche, kreative und unternehmerische Fähigkeiten, sondern zunehmend und mit wachsender Dringlich­keit auch kreativ-technische. Nicht weniger dringend sind die Ausbildung und Weiterentwicklung von Kompetenzen zur gezielten Bearbeitung transformativer Aufgaben11. Herzustellen ist ein breiter Konsens mit Branchenakteurinnen und -akteuren, Fach­verbänden, Hochschulen, Bildungsträgern, Sozialverbänden, aber auch Vertreterinnen und Vertreter des erweiterten kreativöko­nomischen Wertschöpfungskomplexes (gemeint sind etwa Technologieunterneh­men) über die notwendigen Kompetenzen heute und Mechanismen ihrer beständigen Anpassung an die Arbeitswelt von morgen. Jenseits der formalisierten Weiterbildung gilt es weiterhin Räume zu schaffen für Be­gegnung, Austausch und gemeinschaftliches Lernen (Peer-Learning) auch und gerade an der Schnittstelle zu anderen Branchen.

Empfehlung 6

Umsetzung neuer Gemeinschaftlichkeit

Das ästhetisch Neue entsteht zumeist nicht isoliert, sondern in der Verbindung unter­schiedlichster Gewerke und der in ihnen ver­sammelten Kompetenzen, Erfahrungen, Prä­ferenzen, Strukturen, Prozesse, Methoden, Techniken und Materialien. Der kultur- und kreativwirtschaftliche Produktionsmodus ist auf Vernetzung und Kollaboration angelegt. Die kleinteiligen Strukturen arrangieren sich zu einem Wertschöpfungsverbund (im englischen Sprachraum wird diese ökonomi­sche Eigenschaft als motley crew property gekennzeichnet), in dem nicht die Idee eines Einzelnen/einer Einzelnen verwirklicht wird, sondern sie im schöpferisch voranschrei­tenden Miteinander ihre ästhetische Gestalt entwickelt. Diese Verbünde existieren nicht nur innerhalb der Ökosysteme einzelner Teilmärkte und dem Dazwischen, sondern reichen zunehmend über deren Grenzen hinaus, da wo Kultur- und Kreativwirtschaft in neue Wertschöpfungsbeziehungen mit anderen Branchen eintritt.

Mehr denn je besteht die besondere Verant­wortung der Unterstützungseinrichtungen und Interessenvertretungen der bayerischen Kultur- und Kreativwirtschaft darin, eine neue Form von Gemeinschaftlichkeit zu fördern, die sich nicht in der etablierten Pra­xis der Vernetzung erschöpft, sondern das Bewusstsein stärkt, dass die Verwirklichung unternehmerischer Potenziale und die Be­wältigung der großen Transformationsauf­gaben ein produktives Ineinandergreifen der Sektoren verlangen. Es gilt, die kultur- und kreativwirtschaftlichen Ökosysteme weiter zu öffnen, neue Konstellationen der Zu­sammenarbeit zwischen Bildung, Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft zu fördern und Anreize für starke Innovations­partnerschaften zu schaffen. Sowohl inter­sektoral als auch transsektoral.

Empfehlung 7

Schaffung neuer Räume

Die Förderung kultur- und kreativwirtschaft­licher Wertschöpfung und Innovation ist eng verbunden mit der Verfügbarkeit und Quali­tät von Räumen in ihrer ganzen Definitions­breite (von Studios und Ateliers über Häuser und Quartiere bis hin zu Ökosystemen und anderen Aggregationsformen). Dabei geht es basal um Standortbedingungen auf der einen Seite (Anbindung, Infrastruktur, recht­liche Rahmenbedingungen, Kosten, Ent­lastungen, Investitionsanreize, Marktzugang etc.), auf der anderen Seite aber um die sehr viel komplexere Aufgabe der Herstel­lung von Ortsbezogenheit, Gemeinschaft, produktiver Reibung und diffusionsoffener Milieus (etwa für junge Talente und profes­sionelle Außenseiter). Es gilt, Architekturen, Betriebsmodelle und kuratorische Ansätze zu entwickeln, die auf die eigendynami­sche Entwicklung neuer Wertschöpfungs­beziehungen, insbesondere die Schaffung neuer Schnittstellen zu den Bereichen Forschung und Technik ausgerichtet sind. Durch die Förderung einer lebensdienlichen Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Verbund mit der formalisierten Wissenschaft vermag die Kultur- und Kreativwirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Querschnittsziele Nachhaltigkeit und Digitalisierung zu leisten und zur Attraktivie­rung des bayerischen Gründungsökosystems beizutragen.

Empfehlung 8

Erschließung der Perspektive Europa

Die europäische Kultur- und Kreativwirt­schaft ist durch die Einbindung in die europäische Industriestrategie und durch Programme und Initiativen wie Horizon Europe, New European Bauhaus oder das EIT Culture & Creativity zuletzt deutlich ge­stärkt worden. Daraus ergeben sich neue Vernetzungs-, Handlungs-, Absatz- und Ertragsperspektiven auch für die Branche in Bayern. Die besondere Verantwortung ihrer Intermediäre, sowohl auf Landesebene als auch auf kommunaler Ebene, besteht darin, diese Initiativen nah zu begleiten, mitzuge­stalten, sichtbar zu machen und aufzuschlie­ßen. Es gilt, Zugänge zu schaffen, Potenziale aufzuzeigen und im Sinne der (weiteren) Ausbildung kultur- und kreativwirtschaft­licher Ökosysteme neue Konstellationen der Zusammenarbeit anzuregen. Im Fokus steht dabei die Hervorbringung des (ästhe­tisch) Neuen im Raum der Begegnung von Bildung, Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft.

Forscherische Begleitung

Empfehlung 9

Aufbau von Forschungsinfrastruktur

Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist in ihrem Wesen ein komplexes Politik- und Handlungsfeld. Nicht zuletzt die Coronapan­demie und das politische Bemühen um ge­eignete Unterstützungsmaßnahmen für die Branche haben aufgezeigt, wie wichtig ak­tuelle, präzise und belastbare Informationen als Grundlage politischer Steuerung sind. Sichtbar geworden ist zudem die Notwen­digkeit eines tieferen Verständnisses kultur- und kreativwirtschaftlicher Wertschöpfungs­logiken sowie speziell der im Rahmen einer ästhetischen Ökonomie sich ausbildenden Arbeits-, Produktions- und Konsumformen. Dabei gilt es nicht nur die komplexen Aus­tauschverhältnisse des gehandelten Kapitals zu durchdringen, sondern gleichermaßen die Mehrdimensionalität kultur- und kreativwirt­schaftlicher Leistungen. Bereits im zweiten Bayerischen Kultur- und Kreativwirtschafts­bericht wurde allerdings festgehalten, dass „[e]ine wissenschaftliche, methodisch viel­fältige und theorieoffene Auseinanderset­zung mit der Branche […] weitgehend nicht statt[findet] – weder in Bayern noch im rest­lichen Bundesgebiet. Dadurch verharrt sie im vorwissenschaftlichen Raum und beruft sich vielfach auf etabliertes Erfahrungswissen, ob in der Praxis, auf Ebene der Anlaufstellen oder auch der Fachverbände“ (s. unten, Aus­zug aus zweitem Bayerischen Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht). Hier gilt es anzu­setzen und eine fortdauernde wissenschaft­liche Begleitung zu etablieren, die Resonanz in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen erfährt.

  1. Rogers, Carl R.: „Toward a Theory of Creativity“, ETC: A Review of General Semantics, 1954, 11 (4), S. 249 – 260. ↩︎
  2. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, 6. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2019. ↩︎
  3. Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 17. Aufl., Ditzingen: Reclam 2022. ↩︎
  4. ebd. S. 87. ↩︎
  5. ebd. S. 95. ↩︎
  6. Bundesministerium der Finanzen: Deutscher Aufbau- und Resilienzplan (DARP), 25.07.2022, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Europa/DARP/deutscher-aufbau-und-resilienzplan.html [zuletzt aufgerufen: 09.05.2024]. ↩︎
  7. European Comission: Recovery and Resilience Scoreboard – Thematic Analysis Culture and Creative Industries, 04.2022, scoreboard_thematic_analysis_culture.pdf (europa.eu)[zuletzt aufgerufen: 09.05.2023]. ↩︎
  8. Department for Culture, Media & Sport: Policy paper. Creative industries sector vision: a joint plan to drive growth, build talent and develop skills, 20.06.2023, in: Gov.UK, https://www.gov.uk/government/publications/creative-industries-sector-vision/creative-industries-sector-vision-a-joint-plan-to-drive-growth-build-talent-and-develop-skills [zuletzt aufgerufen: 21.05.2024]. ↩︎
  9. Ministère De La Culture: Stratégie d’accélération des industries culturelles et créatives, o. J., Stratégie d’accélération des industries culturelles et créatives https://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Industries-culturelles-et-creatives/strategie-d-acceleration-des-industries-culturelles-et-creatives[zuletzt aufgerufen: 21.05.2024]. ↩︎
  10. Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie: Innovationsland. Bayern – Bayerische Innovationsstrategie 2021 – 2027, 01.2022, 2022-02-28_Innovationsland_Bayern.pdf [zuletzt aufgerufen: 11.05.2024]. ↩︎
  11. European Comission: Monitoring the twin transition of industrial ecosystems – cultural and creative industries. Analytical report, 30.01.2024, https://monitor-industrial-ecosystems.ec.europa.eu/sites/default/files/2023-12/EMI%20CCI%20industrial%20ecosystem%20report.pdf [zuletzt aufgerufen: 14.05.2024]. ↩︎