Michael Söndermann | Büro für Kulturwirtschaftsforschung Köln
Michael Söndermann ist Gründer und Geschäftsführer des Büros für Kulturwirtschaftsforschung mit Sitz in Köln. Mit seinen Arbeiten prägt er seit Jahrzehnten die deutsche Kultur- und Kreativwirtschaftsstatistik und schafft Einblick in ein hoch komplexes Wirtschaftsfeld. Die von ihm im Auftrag der deutschen Wirtschaftsministerkonferenz entwickelten statistischen Leitfäden (2009, 2012 und 2016) gelten als nationaler Erhebungsstandard und haben maßgeblich zur Systematisierung und Verständlichmachung der kultur- und kreativwirtschaftlichen Wertschöpfung beigetragen. Seine Forschungsexpertise hat Eingang gefunden in diverse Studien für Wirtschafts- und Kulturministerien des Bundes und der Länder sowie für EU-Parlament, Eurostat, UNESCO Paris sowie UNESCO Institut für Statistik Montreal.
Michael Soendermann
Bildnachweis: Michael Söndermann
Herr Söndermann, die aktuellen Zahlen liegen nun vor. Wie blicken Sie auf die wirtschaftliche Entwicklung der bayerischen Kultur- und Kreativwirtschaft im Schatten der Coronapandemie?
Die wirtschaftliche Entwicklung der KKW im Schatten der Coronapandemie war von starken Einschränkungen betroffen. Von den 63 Wirtschaftszweigen, die der KKW zugerechnet werden, mussten allein 47 Wirtschaftszweige Umsatzeinbußen hinnehmen, die in einzelnen Fällen deutlich im dreistelligen Millionenbereich lagen.
Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Branche insgesamt recht zügig erholen konnte und bereits im Jahr 2021 das Umsatzniveau des Jahres 2019 erreicht und teilweise sogar übertroffen hat. Die nominalen Wachstumsraten lagen 2021 bei 8 Prozent und 2022 bei anhaltend hohen 7 Prozent. Das hatte niemand für möglich gehalten. So gingen verschiedene Schätzungen für Bayern und das Bundesgebiet noch bis mindestens 2022 von einer negativen Entwicklung der Branche aus.
Welche Ergebnisse sind besonders erwähnenswert, welche haben Sie überrascht?
Besonders hervorzuheben sind die weit überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Erfolge der beiden Teilmärkte Software-/Games-Industrie und Werbemarkt. Sie allein erwirtschaften mittlerweile mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes der KKW. Mit Ausnahme des Buch- und Pressemarktes konnten sich auch die anderen Teilmärkte erholen.
Überraschend ist allerdings, dass sich die Zahl der Selbstständigen und Unternehmen bei weitem nicht so stark erholt hat, wie es die Umsatzdynamik hätte vermuten lassen. Obwohl die positive Umsatzentwicklung bereits im Jahr 2021 einsetzte, verschwanden gleichzeitig noch zahlreiche Selbstständige und Kleinunternehmen vom Markt.
Neben den Standardkennzahlen hat der dritte Bayerische Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht erstmalig auch die Situation der Soloselbstständigen erfasst. Wie sind sie vorgegangen und was können wir aus diesen Zahlen lesen?
Die Gruppe der Soloselbstständigen fand in der bisherigen Standardberichterstattung keine Erwähnung, da sie auch in der Umsatzsteuerstatistik als Begriff nicht existiert.
Die empirischen Befunde zeigen folgende Ergebnisse: Die Gesamtzahl der Selbstständigen und Unternehmen sank zwischen 2018 und 2021 lediglich um ein Zehntel. Die kleinen Soloselbstständigen (durchschnittlicher Umsatz 35.000 Euro) sind hingegen um fast ein Drittel geschrumpft. Sie sind entweder vom Markt verschwunden oder wurden ab 2020 wegen der Anhebung der Umsatzsteuergrenze von 17.500 Euro auch 22.000 Euro nicht mehr in der Umsatzsteuerstatistik erfasst. Alle anderen Selbstständigen und Unternehmen konnten nach dem Einbruch in der Coronakrise bereits wieder ein positives Wachstum verzeichnen.
Dieser bis 2021 anhaltende Negativtrend bei den kleinen Soloselbstständigen ist in fast allen Teilmärkten zu beobachten, lediglich der Buchmarkt und die Software-/Games-Industrie konnten nach dem Coronajahr ihre Bestandszahlen halten, sie verloren zumindest keine weiteren kleinen Soloselbstständigen.
Warum ist der Blick auf die Soloselbstständigen so wichtig?
Corona hat uns gezeigt, wie fragil die wirtschaftliche Situation vieler Soloselbstständiger ist. Gerade diese Gruppe spielt aber eine entscheidende Rolle in der Branche. Denn trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation haben sich viele der „kleinen“ Künstlerinnen, Künstler und Kreativen vor Corona am Markt behaupten können. Oft verstehen sie sich als kulturell-experimentelle Akteurinnen und Akteure, die mit neuen Ideen und innovativen Ansätzen die KKW inspirieren. Sie leisten ihren Beitrag zur kulturellen und kreativen Vielfalt – häufig ohne ihre Ideen multiplizieren und damit ökonomisieren zu können. Sie bilden häufig das Potenzial, aus dem kleine, mittlere und große Unternehmen wirtschaftlich erfolgreiche Ideen und Dienstleistungen entwickeln können.
Zusammenfassend lassen sich für die Gruppe der Soloselbstständigen zwei Strukturmerkmale erkennen. Zum einen der Vielfaltsaspekt: Wie kaum eine andere Branche verfügt die KKW mit der Gruppe der Soloselbstständigen über ein Ausgangspotenzial für neue Ideen und Marktakteurinnen und -akteure. Zum anderen der Vitalitätsaspekt: Die Potenziale der Soloselbstständigen können ein deutliches wirtschaftliches Wachstum in der KKW ermöglichen, wenn es gelingt, sie zu mobilisieren. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet Vitalität die Entwicklung von Innovationen, die gesellschaftliche Relevanz erlangen können. In kultureller Hinsicht bedeutet Vitalität die Entwicklung künstlerischer und kreativer Ausdrucksformen, die wir alle um ihrer selbst willen brauchen.
In welche Richtung sollte die Kultur- und Kreativwirtschaftsstatistik weiterentwickelt werden und warum?
Corona hat uns gezeigt, wie viele Informationsdefizite es in der KKW gibt. Deshalb halte ich die Erweiterung des statistischen Standardmodells der Monitoringbericht, wie mit diesem Bericht umgesetzt, für einen ersten wichtigen Schritt. Bayern leistet hier Pionierarbeit.
Dazu gehört erstens die Schaffung einer ergänzenden statistischen Datenbasis für die Soloselbstständigen nach Umsatzgrößenklassen für alle Teilmärkte der KKW. Zweitens soll der Branchenkomplex KKW außerdem künftig grundsätzlich nach kleinen, mittleren und größeren Unternehmensgruppen untergliedert werden, weil alle drei Gruppen unterschiedliche strukturelle Rahmenbedingungen aufweisen. Darüber hinaus können die jeweiligen gruppenspezifischen Perspektiven besser aufgezeigt werden.
Und drittens gilt es zu realisieren, dass ein großer Teil der Künstlerinnen, Künstler und Kreativen freiberuflich arbeitet. Um ihr Geschäftsmodell abzusichern, beziehen sie ihr Einkommen häufig aus verschiedenen beruflichen Tätigkeiten. Gerade diese berufliche Mehrfachtätigkeit ist aber ein Kernmerkmal der künstlerischen und kreativen Berufe. Durch die statistische Erfassung des Einkommensmix der künstlerischen und kreativen Berufe sollte diese Mehrfachtätigkeit nun zukünftig in die Standardberichterstattung einbezogen werden. Für alle drei Neuerungen gilt, dass sie für alle 16 Bundesländer eingeführt werden sollten. Insgesamt würde eine genauere Erfassung der Branchenstruktur der KKW einerseits und eine neue Erfassung der Einkommens- und Arbeitsbedingungen der künstlerischen und kreativen Berufe andererseits ein weitaus umfassenderes Bild der KKW ermöglichen.
Wie wird sich die Neusortierung der NACE-Codes, also der internationalen Codierungssystematik von Wirtschaftszweigen, im Jahr 2025 auf die hiesige Kultur- und Kreativwirtschaftsstatistik auswirken?
Die Einführung der neuen, revidierten NACE-Klassifikation (NACE1 rev. 2.1, 2024) durch die EU-Kommission wird im Jahr 2025 mit der neuen WZ-Klassifikation2 (WZ-2025) auch in Deutschland umgesetzt. Sie soll zu einer genaueren Erfassung der KKW beitragen und eine bessere Abbildung der aktuellen Strukturen ermöglichen. Exemplarisch lassen sich einige Themen nennen, die verbessert werden könnten.
Clubs und Musiklokale, die bisher dem Wirtschaftszweig „Ausschank von Getränken“ zugeordnet waren, könnten in der neuen WZ-Klassifikation als eigener Wirtschaftszweig erfasst werden.
Der Kunsthandel, der bisher in einer Sammelposition mit „Briefmarken, Münzen, Geschenkartikeln, Perserteppichen usw.“ versteckt war, wird in der neuen Klassifikation in einem eigenen Wirtschaftszweig erfasst, der sogar europaweit verbindlich wird.
Der bereits bestehende Wirtschaftszweig „Ateliers für Textil-, Schmuck-, Grafik- u. ä. Design“ mit bisher drei einzelnen Wirtschaftszweigen wird verfeinert und erhält einen neuen vierten Wirtschaftszweig.
Neue Differenzierungen sind auch bei der Frage zu erwarten, wie die Games-Branche eigenständiger als bisher in die Klassifikation einbezogen werden kann. Nach der bisherigen Systematik wird ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten von Spieleentwicklern und -publishern im Wirtschaftszweig „Sonstige Softwareentwicklung“ vermutet. Es wäre ein enormer Qualitätssprung, wenn die Games-Branche hier eigenständiger erfasst werden könnte.
Eine Kerngruppe der KKW, nämlich die Wirtschaftsgruppe „Kreative, künstlerische und ähnliche Tätigkeiten“, wird von der bisherigen vierstelligen auf die dreistellige Klassifikationsebene angehoben. Dies ist wichtig, denn je höher ein Wirtschaftszweig oder eine Wirtschaftsgruppe angesiedelt ist, desto mehr Gewicht erhält sie in der statistischen Berichterstattung. Gleiches gilt für die Wirtschaftsgruppe „Museen, Bibliotheken, Archive usw.“.
Insgesamt trägt die Einführung der europäischen NACE Rev. 2.1 und der deutschen WZ-2025 dazu bei, die Datenbasis für die KKW auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene erheblich zu verbessern und damit vergleichende Struktur- und Entwicklungsanalysen zu verfeinern.
Wo liegen die statistischen Herausforderungen in der Erfassung kultur- und kreativwirtschaftlicher Wertschöpfung?
Die Erfassung der Wertschöpfung der KKW birgt einige statistische Herausforderungen:
Ein großer Teil der Wertschöpfung in der KKW basiert auf immateriellen Werten wie kreative Ideen, kultureller Vielfalt und sozialer Interaktion. Diese immateriellen Werte sind schwer zu messen. Selbst das „Oslo Manual (2018)“, die weltweite „Bibel“ für die statistische Erfassung der Innovationskraft einer Branche, konzentriert sich nach wie vor hauptsächlich auf technische Innovationen. Die Erfassung nicht-technischer oder immaterieller Innovationen ist bisher lediglich ansatzweise gelungen. Dies hat auch Konsequenzen für die Erfassung der KKW.
Ein weiterer großer Teil der Wertschöpfung in der KKW wird zunehmend durch digitale Technologien und neue digitale Geschäftsmodelle geprägt. Die Wirtschaftsstatistik hat jedoch Schwierigkeiten, die jeweiligen kultur- und kreativitätsrelevanten Anteile an der Wertschöpfung einer Branche auch nur annähernd adäquat zu erfassen.
Die traditionelle Abschätzung der Wertschöpfung in der KKW basiert bislang auf den Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, die nur grobe Branchenaggregate auf der sogenannten 2-Steller-Ebene liefern. Beispielsweise umfasst der Wirtschaftszweig WZ-62 eine Vielzahl von Tätigkeiten wie Anpassung von Software an Kundenanforderungen, Application Service Providing, Applikationsentwicklung für CAD-Systeme, Erstellung von EDV-Programmen, Entwicklung von Bildverarbeitungssoftware, CAE-Software, Client-Server-Anwendungen, EDV-Systeme, kundenspezifische Software, Standardsoftware etc. und Programmierer (Entwicklung von kundenspezifischer Software, nicht Webdesign), Systemprogrammierung. Hier ist also ein erheblicher Teil der nicht-kulturellen und nicht-kreativen Wertschöpfung in die Schätzungen für die KKW eingeflossen. Diese Überschätzung betrifft vor allem den Teilmarkt Software/Games-Industrie, in dem die Games-Branche bislang statistisch nicht isoliert erfasst werden kann. Insgesamt ist zu hoffen, dass die neue WZ/NACE-Klassifikation hier eine bessere Differenzierung bei der Erfassung ermöglicht.
Basierend auf den Daten und Ihrer Erfahrung, wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der bayerischen KKW ein? Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie?
Die Coronapandemie war eine große Herausforderung für die Kultur- und Kreativwirtschaft, dennoch zeigte sie im Anschluss ab dem Jahr 2021 eine Umsatzentwicklung, die über der Wachstumsdynamik von 3 bis 4 Prozent vor der Coronakrise lag.
Diese positive Entwicklung wird jedoch getrübt durch die Einbrüche bei den Soloselbstständigen und kleineren Akteurinnen und Akteuren in der KKW, denn ihr Verschwinden vom Markt könnte negative Folgen für die gesamte KKW haben. Die KKW ist eine wachsende immaterielle Wirtschaft, die auf neuen kreativen Ideen basiert. Innovationen in der KKW sind inhärent, aber oft empirisch schwer nachweisbar, was Herausforderungen bei der Bewertung und Anerkennung mit sich bringt. Neben wirtschaftlichen Faktoren wie Umsatz, Beschäftigung und Unternehmensprofil spielen auch kulturelle „weiche“ Faktoren wie Vielfalt, Vitalität und kulturelle Identität eine entscheidende Rolle für die Fortentwicklung der KKW. Die intrinsische Motivation steht somit gleichberechtigt neben der ökonomischen Motivation, was die KKW von vielen anderen Unternehmen unterscheidet. Es sind die kleineren Akteurinnen und Akteure am Markt, die im kulturellen und kreativen Feld ständig neue Ideen entwickeln und verwirklichen. Ein Münchener Kulturdezernent hat dies mit seiner Bewertung auf den Punkt gebracht, die Soloselbstständigen seien die nicht finanzierte Forschungsabteilung der KKW.
Gleichwohl sind Unsicherheit und instabile Einkommensquellen die ständigen Begleiter, was wiederum die wirtschaftliche Stabilität der Akteurinnen und Akteure beeinträchtigt. Der Mangel an rechtlicher Anerkennung und adäquaten Schutzmechanismen für geistiges Eigentum kann Kreativität und Innovation in der Branche hemmen.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die bayerische KKW dennoch eine Reihe von Chancen. Dazu zählen eine robuste Umsatzentwicklung und die Möglichkeit, von der Stabilität großer Unternehmen kleinere ebenfalls profitieren zu lassen. Gelingt es der bayerischen KKW, die kleineren Akteurinnen und Akteure bei ihrer Integration in den Markt und bei der Sicherstellung einer langfristigen Perspektive zu unterstützen, können Vielfalt und Dynamik des Marktes erhalten bleiben und kann gleichzeitig die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Branche gesichert werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
- NACE ist das Akronym aus „Nomenclature statistique des activités économiques dans la Communauté européenne“ und bedeutet die Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft. ↩︎
- WZ-Klassifikation ist die Abkürzung für die deutsche Gliederung der Klassifikation der Wirtschaftszweige. ↩︎