Dr. Kilian Steiner | bayern design GmbH
Dr. Kilian Steiner promovierte im Fach Technik- und Unternehmensgeschichte an der LMU und TU München. Nach Tätigkeiten als Unternehmenshistoriker und PR Berater arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Museums. Hier setzte er sich u. a. mit Fragen der Technikgestaltung und Ergonomie auseinander, bevor er 2008 als PR Manager International zum Unterhaltungselektronikhersteller Loewe wechselte. Seit 2014 verantwortet er als Leiter Öffentlichkeitsarbeit die Öffentlichkeitsarbeit von bayern design und der munich creative business week (mcbw). Er ist unter anderem Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Designgeschichte e. V. und engagiert sich ehrenamtlich im Ausschuss für Kommunikation und Medien der Industrie- und Handelskammer Nürnberg für Mittelfranken.
Dr. Kilian Steiner
Bildnachweis: Maximilian Sydow
Spätestens seit der von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen im Jahr 2020 ergriffenen Initiative Neues Europäisches Bauhaus (NEB) wird einer größeren Öffentlichkeit das Transformationspotenzial der Kultur- und Kreativwirtschaft stärker bewusst. In einem krisenhaften Moment, wie der scheinbar unaufhaltsamen Klimaerwärmung, adressiert diese Initiative explizit Gestalterinnen und Gestalter aller Disziplinen und löst eine interdisziplinäre Bewegung aus, um den European Green Deal um eine Kulturkomponente zu erweitern. Durch die explizite Verbindung von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technologie soll so ein inklusiver, nachhaltiger und ästhetisch ansprechender Lebensraum für die Bürgerinnen und Bürger Europas geschaffen und gestaltet werden. Der Rückgriff auf das Transformationspotenzial des Designs in Krisenzeiten hat in Europa neben dem Bauhaus weitere historische Vorbilder: Bereits 1944 war zum Beispiel in Großbritannien die Gründung des bis heute bestehenden Designzentrums Design Councils zur Transformation von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft erfolgt. Der Schwerpunkt lag zunächst in der Designförderung1. Erst in den neunziger Jahren begann sich die Designforschung als neuer Ansatz für die Designförderung am Design Council und neuen Forschungsrichtungen international herauszubilden.
Drei Ansätze in der Designforschung
In Anlehnung an die Terminologie von Christopher Frayling vom Royal College of Art London werden heute im Allgemeinen drei Arten von Designforschung unterschieden: Forschung über Design (research into design), Forschung für Design (research for design) und Forschung aus dem Design (research through design)2. Unter „Forschung über Design“ versteht man in der Regel Forschungsansätze, die im akademischen Kontext aus der Perspektive einer anderen Disziplin wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, Soziologie oder Ästhetik und mittels standardisierter wissenschaftlicher Methoden designspezifische Entwicklungen und Phänomene untersuchen. Praxisbasierte Forschung wird dagegen unter dem Ansatz „Forschung für Design“ zusammengefasst. Sie fokussiert sich auf spezifische Aspekte in Designprozessen oder Anwendungsgebieten und versucht von außen, diese wissenschaftlich basiert zu verbessern. Forschende fungieren hier als „Wissenslieferanten“ für Gestaltende. Methoden der Ingenieurswissenschaften, Ökonomie und Soziologie finden beispielsweise hier Eingang und dienen der Findung innovativer Lösungen in der Designpraxis. Im dritten Ansatz „Forschung durch Design“ sind dagegen die Gestaltenden selbst unmittelbar involviert und gestalten den Forschungsgegenstand autonom durch Anwendung geeigneter Designmethoden und anderer wissenschaftlicher Ansätze. Sie schaffen dabei neues Wissen aus der Designpraxis – sowohl prozessual wie zum Beispiel bestimmte Dienstleistungen als auch gegenständlich in Form von Objekten3.
„Die großen Herausforderungen im Kontext von Klimakatastrophe, Verkehrswende, Ernährungswende, Entrepreneurship, Digitalisierung oder KI erfordern das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen. Dabei geht es nicht nur um die Erforschung neuer technologischer Entwicklungen, sondern auch um Kommunikation, neue Prozesse und Kulturmuster“, betont Prof. Markus Frenzl vom Designkulturen Institut für Angewandte Designforschung an der Hochschule München die Rolle der Designforschung4. Gleichzeitig bemängelt er, dass die Vorteile der Designforschung für die Gesellschaft noch zu wenig wahrgenommen werden5. bayern design, das internationale Kompetenzzentrum für Wissenstransfer und Kollaborationen rund um Design in Bayern, begleitet daher das Thema Designforschung seit mehreren Jahren proaktiv mit und hebt ihre Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft in seinen Netzwerkaktivitäten, Veranstaltungen und Online-Publikationen hervor6.
Transformieren. Eine Schlüsselkategorie für das Design
Anschaulich beschreiben Uta Brandes und Michael Erlhoff in ihrem Lehrbuch „Designtheorie und Designforschung“ (2009) im Kapitel „Machbarkeits-Studien“, warum Transformieren eine Schlüsselkategorie für Design und seiner Anwendung in Phasen des Umbruchs ist. Schließlich ist jede Aufgabe, die an das Design gestellt wird oder die sich Gestaltende selbst stellen, schon immer von impliziten und expliziten – meist unabänderlichen – Faktoren abhängig. Diese verlangen designmethodisch und damit gesamthaft analysiert zu werden, um wirklich neue Lösungsansätze zu ermöglichen. Nur dann bedeutet Machbarkeit nicht nur Einschränkung, sondern ist Basis für Innovation7.
Dies beschreibt ziemlich genau das Potenzial von Designforschung. Letztere findet allerdings noch häufig im Verborgenen statt: Sei es, weil Verschwiegenheitsvereinbarungen mit den Auftraggebenden einer Veröffentlichung entgegenstehen, sei es, weil es seitens der Designforschenden keine ausgebildete Publikationspraxis gibt. So bleibt Designforschung häufig für Politik und Öffentlichkeit eine Black Box. Die Klassifizierung von Design als Kreativdisziplin und -wirtschaft erleichtert dabei die Wahrnehmung als wissensbasierte Forschung nicht, „denn in der Reflexion von Gestaltung tritt immer wieder dieses Problem auf, was denn eigentlich die Gestaltung animiert, begründet und regelt.“8 Manche Schaffende in Kunst und Design fördern sogar implizit den Mythos der genialen Schöpfung, indem sie – wie Wolf Lotter moniert – häufig unverständlich kommunizieren und sich so der Überprüfbarkeit entziehen9. Dabei ist Intuition auch in den angesehenen Naturwissenschaften keine Unbekannte, wie ein Ausflug in die Wissenschaftsgeschichte zeigt: Ein fallender Apfel soll den Mathematiker, Physiker und Astronom Isaac Newton zu seinem epochalen Gravitationsgesetz inspiriert haben. Auch wenn die Anekdote nicht belegt ist, attestiert die Wissenschaftsgeschichte Newton durchaus einen ähnlichen Schlüsselmoment. Da er zudem das Gravitationsgesetz logisch und nachvollziehbar belegen konnte, ist seine auf einer Intuition beruhende Entdeckung allgemein als Meilenstein der Wissenschaft anerkannt. Es erscheint daher essenziell, dass Designforschende auch diese nachvollziehbare Sprache der Forschung erlernen und weiterentwickeln. Das Transformationspotenzial der Designforschung soll im Folgenden exemplarisch veranschaulicht werden.
Transformation durch Biodesign
Die wandelnde Rolle von Design in der Materialforschung zeigt sich zum Beispiel im Bereich des „Biodesigns“, in dem Materialien und Objekte mithilfe von synthetischer Biologie oder lebenden Organismen designt und produziert werden. So beschreibt der Produktdesigner Professor Nitzan Cohen an der Freien Universität Bozen die Übersetzerrolle von Gestaltenden im „Biodesign“ wie folgt: „Biodesign ist ein aufstrebender Bereich im Design, der auch die Entwicklung nachhaltiger Materialien durch die Verwendung von lebenden Organismen (wie Bakterien, Algen, Pilzen und Hybridkulturen) bei ihrer Verarbeitung und Produktion fördert.“10
Transformation durch Erfahrung
Während einer Bali-Reise entdeckte der Produktdesigner Julian Reuter auf einem kleinen Kunsthandwerksmarkt ein fast vergessenes Material für sich: Rattan. Er beobachtete, wie die Handwerkerinnen und Handwerker Verformungen und Konstruktionen machen, die ihm bislang von einem Naturprodukt fremd waren, und war fasziniert. Gemeinsam mit dem Produktdesigner Peter Kraft entwickelte er daraufhin die Materialinnovation karuun®.11 Das Leichtbaumaterial wird aus der Rattanpalme gewonnen. Als innovatives und nachhaltiges Nature Tech Material schafft es neue Gestaltungs- und Einsatzmöglichkeiten unter anderem für die Automobilindustrie und reduziert den Einsatz von Kunststoffen. Rattan wird in Indonesien per Hand von lokalen Bauern geerntet und energieeffizient zu Blöcken sowie anschließend zu Furnieren und Platten weiterverarbeitet. Rattan ist auf Biodiversität angewiesen, weshalb die Kultivierung von Rattan auch zum Erhalt von Tropenwäldern beiträgt und somit einen wesentlichen Beitrag für eine moderne Kreislaufwirtschaft leistet.
In der angewandten Designforschung steckt enormes Potenzial, die wir als regelrechten Booster in Zeiten des Umbruchs dringend benötigen.
Dr. Kilian Steiner
Weiterentwicklung wissenschaftlicher Praxis
Im Zuge der Hightech Agenda des Freistaats Bayern, mit deren Mittel Spitzenforschungszentren eingerichtet werden, wurden kürzlich der Fakultät für Design der Hochschule München als erster bayerischer Designfakultät mehrere Forschungsprofessuren bewilligt. Weitere befinden sich aktuell an anderen bayerischen Designfakultäten im Genehmigungsverfahren und werden künftig wesentliche Bausteine in der Lehre und Professionalisierung der Designforschung sein. Dabei sollte es nicht nur um die Übertragung von bestehenden Forschungspraktiken auf das Design gehen, sondern um die bewusste Weiterentwicklung wissenschaftlicher Praxis.
Diesem Ansatz ging auch das Symposium „Designforschung – Disruption im Forschungsbetrieb?“ der fünf bayerischen Designfakultäten nach, das im Rahmen der von bayern design veranstalten munich creative business week (mcbw) 2023 an der Fakultät für Design der Hochschule München stattfand. Begleitend zum Symposium fand die Ausstellung „Designforschung Bayern – Gegenwart und Zukunft“ statt, die mit Beispielen von Forschungsansätzen und ‑ergebnissen, die Vielfalt der angewandten Designforschung in Bayern in den Blick rückte und klar machte, dass Design als Schnittstellendisziplin Wissensbereiche sinnvoll zusammenführen kann, um Innovationen im Kontext von Wirtschaft, Ökologie und Gesellschaft voranzutreiben.
Ob Biodesign, die Wiederentdeckung von Rattan oder die Ausstellung und das Symposium an der Hochschule München: In der angewandten Designforschung steckt enormes Potenzial, das wir als regelrechten Booster in Zeiten des Umbruchs dringend benötigen. Perspektivisch gesehen soll daher die Designforschung in Bayern insbesondere auch durch das Munich Design Institute als integratives Forschungszentrum mit einem transdisziplinären Ansatz an der TU München ausgebaut werden.
Bildnachweis: LÉROT
- Zur Geschichte des Design Councils und seiner Aufgabenbereiche vgl. Design Council: Our History, 2024, https://www.designcouncil.org.uk/who-we-are/our-history/ [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎
- Frayling, Christopher: Research in Art and Design, in: Royal College of Art Research Papers, Heft 1, 1994, S. 1 – 5. ↩︎
- Vgl. zu Potenzialen und Kritik an den drei Designforschungsansätzen: Dorkenwald, Sarah: Zum Stand der Designforschung, in: bayern design, 17.04.2023, https://bayern-design.de/beitrag/zum-stand-der-designforschung/ [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎
- Frenzl, Markus zit. nach: Dorkenwald, Sarah: Zum Stand der Designforschung, in: bayern design, 17.04.2023, https://bayern-design.de/beitrag/zum-stand-der-designforschung/ [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎
- Frenzl, Markus zit. nach Moldenhauer, Andrea: Muster transformieren, in: Stylepark, 14.03.2024, https://www.stylepark.com/de/news/markus-frenzl-designkulturen-institutf%C3%BCr-angewandte-designforschung-interview [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎
- Zu den Aktivitäten gehörten unter anderem die Förderung einer Podiumsdiskussion zum Thema Designausbildung und -forschung auf der mcbw 2021, die Durchführung und Veröffentlichung von zwei Online-Studien zu den Themen Wert des Designs (Joachim Kobuss, 2022) und zur Designfähigkeit von Unternehmen (Jan-Erik Baars, 2023). Vgl. Kobuss, Joachim: Studie zur wirtschaftlichen Relevanz von Design, bayern design (Hg.), 14.07.2022, https://bayern-design.de/wp-content/uploads/2022/07/BD-Studie_22_FINAL_Doppelseiten.pdf [zuletzt aufgerufen: 14.05.2024] und Baars, Jan-Erik: Studienbericht zur Designfähigkeit, bayern design (Hg.), 28.07.2023, https://bayern-design.de/wp-content/uploads/2023/09/Studienbericht-zur-Designfaehikgeit_DS-1.pdf [zuletzt aufgerufen: 14.05.2024]. ↩︎
- Brandes, Uta/Erlhoff, Michael: Designtheorie und Designforschung, Stuttgart: Brill/Fink 2009, S. 83. ↩︎
- ebd. S. 26. ↩︎
- Lotter, Wolf: Die Gestörten. Warum sie unseren Wohlstand sichern, Hamburg: Brand eins books 2023, S. 35. ↩︎
- Cohen, Nitzan zit. nach Fabich, Kilian: Designprozesse einer neuen Materialkultur. Rückblick auf die Ausstellung Material+, in: bayern design, 03.11.2023, https://bayern-design.de/beitrag/designprozesse-einer-neuen-materialkultur/ [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎
- Vgl. Karuun: Website, 2022, https://www.karuun.com/uber-uns/ [zuletzt aufgerufen: 14.05.2024] und Bayern Design: Pressemitteilung: bayern design beim IAA Mobility Summit 2023, in: bayern design, 04.10.2023, https://bayern-design.de/beitrag/pressemitteilung-bayern-design-beim-iaa-mobility-summit-2023/ [zuletzt aufgerufen: 24.03.2024]. ↩︎