Wie müssen Räume beschaffen sein, damit sie kultur- und kreativwirtschaftliches Forschen, Entwickeln, Produzieren und Vermarkten ermöglichen? Mehr noch: Wie kann man durch die bewusste Gestaltung von Räumen die ästhetische Kreativität (aka den schöpferischen Akt) unterstützen und befördern, um im Sinn der aktuellen Industriestrategie der Europäischen Kommission sowie der Ziele des gerade neu konstituierten EIT KIC Culture & Creativity mehr und disruptivere marktschaffende Innovationen schneller zu realisieren?

Dr. Olaf Kranz | Kompetenzteam Kultur- und Kreativwirtschaft Landeshauptstadt München

Dr. Olaf Kranz ist Leiter im Kompetenzteam für Kultur- und Kreativwirtschaft der Landeshauptstadt München. Er studierte Soziologie und Politikwissenschaft. Das Thema Kultur- und Kreativwirtschaft hat ihn nicht mehr losgelassen, nachdem er durch das Gründen eines Modelabels zusammen mit seiner Frau, einer Modedesignerin, davon so fasziniert wurde, dass er es auch in seine akademische Lehre und Forschung einbaute. Im Anschluss an ein EU-Projekt über den Interdependenzzusammenhang zwischen förderlichen Entwicklungsbedingungen für die Kultur- und Kreativwirtschaft und der kulturgeleiteten Stadtentwicklung in mittelgroßen Städten im europäischen Vergleich an der Universität Regensburg folgte er im August 2022 der Herausforderung, das Kompetenzteam Kultur- und Kreativwirtschaft der Landeshauptstadt München zu leiten.

Dr. Olaf kranz

Bildnachweis: Stadt München

Ein Effekt von Räumen der Kultur- und Kreativwirtschaft ist ihre Ausstrahlung in die Nachbarschaft eines Quartiers. Meistens wirken sie aufwertend, stoßen also Aufwertungsprozesse von Grund und Boden und Immobilien in ihrer Nachbarschaft an.

Dr. Olaf Kranz

In der kommunalen Wirtschaftsförderung begegnet uns diese Frage nach einer kreativitätsförderlichen Raumgestaltung in verschiedenen räumlichen Maßstäben, und zwar
– auf der Ebene von Arbeits- und Präsentationsräumen wie Studios und Ateliers oder Bühnen und Showrooms,
– auf der Ebene der Nachbarschaft in einem Haus,
– auf der Ebene der Nachbarschaft in einem Quartier,
– auf der Ebene der Sozialform Stadt.

Arbeits- und Präsentationsräume

Aus der Erfahrung kennen wir in den elf Teilmärkten der Kultur- und Kreativwirtschaft zunächst eine unübersichtliche und unabschließbare heterogene Vielfalt von sowohl Arbeits- als auch Präsentationsräumen: Das Studio, das Atelier, die offenen Bürogrundrisse der Agenturen, den Bandproberaum, den Tanzsaal, die Probebühne und dann den Showroom, den Multi-Label-Store, den Konzertsaal, die Galerie etc. Man sieht schnell: Die Raumanforderungen der verschiedenen ästhetischen Ausdrucksmedien, in die die Myriaden schöpferischer Akte ihre Formen prägen – vom leeren weißen Blatt Papier bis hin zum zunächst unbeschriebenen, durch VR-Brillen immersiv erfahrbaren Metaverse in Gameswelten – die Raumanforderungen der unterschiedlichen Funktionen in der Wertschöpfungskette. vom Forschen über Entwickeln und Produzieren bis hin zum Vermarkten, die Bedarfe an Raumgestaltung aufgrund von Ansprüchen aus Alleinstellungsmerkmalen, Marktpositionierungen, Unternehmenslebenszyklen und allgemein aus Geschäftsmodelldynamiken. All diese Aspekte kreieren die Vielfalt an gestalteten Räumen, wie wir sie gegenwärtig finden. Wie kann man in diesem Meer an Mikrodiversität überhaupt Muster erkennen, um daraus Kriterien für eine raumbezogene kommunale Kulturwirtschaftspolitik zur Förderung ästhetischer Kreativität zu gewinnen? Wir können uns solche Gesichtspunkte aus dem allgemeinen Prozess der Kreativität in ästhetischen Ausdrucksmedien erschließen.

Eigenschaften ästhetischer Kreativität

Wir können Kreativität als eine Eingangsgröße für den davon unterschiedenen Prozess der Innovation auffassen, den wir hier ausklammern. Unter ästhetischer Kreativität lässt sich das Hervorbringen neuer ästhetischer Artefakte auf der Grundlage einer (vorerst noch) menschlichen Imaginationskraft verstehen, welche sich nicht an die in der realen Realität geltenden Naturgesetze halten muss. Das ästhetisch Neue verfolgt zunächst keine eigenen praktischen Zwecke, außer dass es auf die Überraschung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten abzielt, während aus dieser Überraschung individuell jeweils so unterschiedliche Reaktionen wie Berührung, Gefühle, Unterhaltung oder auch Reflexion entspringen mögen. Das ästhetisch Neue wird jeweils geschöpft durch die intensive, oft lebenslange Auseinandersetzung von Individuen mit der Widerständigkeit eines der ästhetischen Ausdrucksmedien durch Übung, Training, Ausbildung und Professionalisierung. Neues entsteht durch die Weiterentwicklung oder überraschende Neukombination von Bekanntem und Vertrautem. Ästhetische Kreativität setzt demnach eine psychologische Disposition für Offenheit, Experimentieren, Risikoübernahme für das Brechen von Regeln, intrinsische Motivation und die Fähigkeit zur ausdauernden Verfolgung einer Idee bis zu ihrer Umsetzung bei den Kultur- und Kreativschaffenden voraus.

Wie der Philosoph Hans Blumenberg bemerkte, kann Kreativität unter höchst unterschiedlichen, ja sogar widersprüchlichen Bedingungen entstehen: „Kreativ macht den Menschen die Not seiner Bedürfnisse oder der spielerische Umgang mit dem Überfluss seiner Talente“.1 Das heißt aber auch: Kreativität entzieht sich der direkten Planung und Planbarkeit. Schon der individuelle Prozess der Hervorbringung des ästhetisch Neuen ist unwahrscheinlich: Eine Inspiration will sich nicht einstellen, eine neue Perspektive auf das Bekannte, eine überzeugende Neukonzeption von Bekanntem, die Entdeckung neuer Beziehungen zwischen vorhandenen Elementen lassen auf sich warten. Das Team um den Neurowissenschaftler Marcus E. Raichle2 hat in der Großhirnrinde ein Netzwerk von Regionen entdeckt, die im Ruhezustand aktiv sind, aber beim Lösen von Aufgaben und Problemen deaktiviert werden, das sogenannte Default Mode Netzwerk (Ruhezustandsnetzwerk). Dieses neuronale Netzwerk ist gerade dann aktiv, wenn wir unser Denken nicht bewusst steuern und fokussieren, wenn wir also unaufmerksam sind wie z. B. beim Tagträumen, Abschweifen, Phantasieren. Interessanterweise ist dieses Areal bei kreativ tätigen Menschen stärker ausgeprägt. Offensichtlich stellen die Muße und die Abschweifung günstige Bedingungen für Kreativität dar.

Unwahrscheinlich ist aber auch die überzeugende Umsetzung einer zunächst mentalen Vorstellung in einem für andere wahrnehmbaren widerständigen Ausdrucksmedium: Die Werkausführung wird abgebrochen und zunächst beiseitegelegt oder ganz verworfen. Gerhard Richter geht gerichtlich gegen einen Sammler vor, der heimlich von Richter in den Müll geworfene Skizzen und Zeichnungen aus dem Müll birgt, um sie zu verkaufen.

Individuelles schöpferisches Schaffen unterliegt einem voraussetzungsvollen, so störungssensiblen wie irrtumsanfälligen nichtlinearen Prozess mit vielen Iterationen und Rekursionen im je einzelnen Werk, dessen Zeitbedarf im Vorhinein unbekannt ist. Darin ähnelt der schöpferische Akt dem Forschungsprozess des Entdeckens in der Wissenschaft, für dessen Zufallsabhängigkeit schon der Soziologe Robert K. Merton3 im Anschluss an Louis Pasteur den schönen Begriff der Serendipität eingeführt hat: „The discovery through chance by a theoretically prepared mind of valid findings which were not sought for“ („Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist“). Das Phänomen sich glücklichen Umständen und dem Zufall verdankender unerwarteter positiver Entdeckungen, Einfälle und Entwicklungen findet sich im gleichen Maße wie in der Wissenschaft, wenn nicht noch in viele größerem Ausmaß im Reich der ästhetischen Schöpfung.

Produktive Muße, konstruktive Irrtümer, Serendipität und Perseveranz finden sich aber nicht nur allein oder auch nur vorwiegend auf der Ebene kreativ tätiger Individuen. Der Kreativitätsforscher Mihály Csikszentmihalyi 4 zeigt in seinem Systemmodell der Kreativität auf, dass die soziale Gegenzeichnung des individuell hervorgebrachten ästhetisch Neuen vor allem von einer sozialen Anerkennung durch ein Netzwerk von Expertinnen und Experten bzw. Gatekeeperinnen und Gatekeepern in einem bestimmten sozialen Feld abhängt, während auch dieser soziale Prozess in hohem Maße durch Muße, Irrtümer, Serendipität und Perseveranz strukturiert ist. In diesem sozialen Prozess geht es dabei ebenso um das Erkennen und Auszeichnen von ästhetisch Neuem als Neuem als auch um seine Sichtbarkeit und die Anerkennung individueller Kreativität als kulturell relevant und wirtschaftlich wertvoll.

Die Nachbarschaft des Hauses

Wie können wir diese Einsichten in die Eigenschaften der individuellen wie sozialen Prozesse der Entstehung und Validierung von Kreativität in die Gestaltung kreativitätsförderlicher Räume unterschiedlicher Maßstäbe umsetzen? Wie lässt sich Unplanbares, wie Zufallsabhängiges, wie Irrtumsanfälliges planen? Mir geht es ebenso um die zugespitzte Formulierung dieser Frage wie um die Pointe, dass die (innen-)Architektur in ihren ästhetischen Lösungen ganz praktische Antworten auf diese Frage gefunden hat. Und zwar in Prozessen, die genau durch die Eigenschaften Muße, Irrtum, Serendipität und Perseveranz gekennzeichnet waren, während die Inspiration für die offenen Büroarchitekturen, kreativitätsförderlichen Grundrisse und Arbeitsumwelten des „New Work“ aus den bereits bestehenden, sich evolutiv entwickelt habenden Raumlösungen im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft entstanden sind.

Im Projekt „Ruffinihaus Creative Hub“ am Münchner Rindermarkt, dem vom Kompetenzteam Kultur- und Kreativwirtschaft der Landeshauptstadt München betriebenen Unternehmensinkubator für die Branche, werden diese Prinzipien kreativer Prozesse berücksichtigt – nun auf der maßstäblichen Ebene der Nachbarschaft eines Hauses. Vor allem durch die Kuration einer interessanten Mischung an Firmen aus unterschiedlichen Teilmärkten der Kultur- und Kreativwirtschaft, durch Communitybuilding und durch Netzwerkveranstaltungen wird versucht, überraschende Begegnungen, wechselseitige Inspirationen und gegenseitiges Vertrauen, fachlichen Austausch und Peer-Learning anzuregen und letztlich der Muße, dem Irrtum, dem Zufall eine systematische Chance und ein Zuhause zu geben.

Auf der maßstäblichen Ebene eines Hauses spielt aber nicht nur der Innenraum eine Rolle, sondern auch die nach außen wirkende architektonische Form. Spätestens seit Gottfried Semper5 wissen wir von den zwei Funktionen der Architektur: Sie ist eine schützende Hülle für einen „Kern“ im Inneren – Gebrauch, Sinn, Material – und wortloser symbolischer Ausdruck dieses Kerns im Medium ästhetischer Formen der Architektur nach außen. Räume für die Entfaltung ästhetischer Kreativität drängen zum symbolischen Ausdruck nach außen, der mal als Spektakelarchitektur, mal als Kreativitäts- und Kunstraum, mal als geschäftige Fassade, aber auch als Makerspace mit rauhem Industriecharme daherkommen mag.

Die Nachbarschaft in einem Quartier

Ein Effekt von Räumen der Kultur- und Kreativwirtschaft ist ihre Ausstrahlung in die Nachbarschaft eines Quartiers. Meistens wirken sie aufwertend, stoßen also Aufwertungsprozesse von Grund und Boden und Immobilien in ihrer Nachbarschaft an. Weil die Kultur- und Kreativwirtschaft gerade in ihrem schöpferischen Akt mit besonders hoher intrinsischer Motivation, einem hohen Maß an Freude an und Aufmerksamkeit für den schöpferischen Prozess und daneben auch zumeist in kleinteiligen Unternehmensstrukturen operiert, können die Kultur- und Kreativschaffenden wirtschaftlich oft nicht mit dem Prozess der steigenden Gewerbemieten und Lebenshaltungskosten in aufgewerteten Quartieren mithalten. Sie werden nicht selten zu den ersten Opfern der von ihnen selbst initiierten sogenannten Gentrifizierung. Und ziehen notgedrungen weiter ins nächste Quartier, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederum Aufwertungsprozesse auslösen, ad infinitum. Umzüge sind unproduktiv, die Sorge vor Verdrängung, die Suche nach neuen Arbeitsräumen unterbrechen den kreativen Prozess und ziehen Aufmerksamkeit und Ressourcen aus diesem ab. Umzüge machen nicht kreativ. Eine Anforderung an kreativitätsförderliche Raumgestaltung wäre die Entwicklung von Instrumenten, die den Prozess der Gentrifizierung inhibieren, um die Kultur- und Kreativschaffenden mit langfristig leistbaren Arbeitsräumen zu unterstützen.

Die Stadt München unterstützt im Kreativlabor zwischen Leonrodplatz und Heßstraße derzeitig viele Akteurinnen und Akteure aus der Freien Szene der darstellenden und bildenden Künste, der kulturellen Bildung, der Soziokultur und Unternehmen und Selbstständige der Kultur- und Kreativwirtschaft durch das Angebot von Räumen mit langfristig leistbaren Mieten. Im Kreativlabor wird aber auch, wie im Ruffinihaus Creative Hub, durch eine Kuration des Nutzungsmixes eine interessante Mischung an Selbstständigen und Firmen aus unterschiedlichen Teilmärkten in eine räumliche Nachbarschaft gebracht, um Community- und Netzwerkbildung ebenso anzuregen wie alltägliche Begegnung und Austausch. Hier soll mittelfristig ein Quartier entwickelt werden, das der Serendipität und der ihr potenziell innewohnenden kreativen Produktivität Raum gibt.6

Parallel zum Kreativlabor werden aktuell zwei alte Industriehallen in städtischem Eigentum in direkter Nachbarschaft zum Kreativlabor saniert, die Jutier- und die Tonnenhalle. Während in der Tonnenhalle zwei unterschiedlich dimensionierte Säle als Aufführungsräume für die Freie Szene der darstellenden Künste entstehen sollen, wird in der Jutierhalle mit ca. 40 Studio-Cubes ein weiterer Inkubator für junge Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft bis Ende 2026 entstehen.7

Ähnliche Entwicklungen der raumbezogenen kommunalen Kulturwirtschaftspolitik finden wir z. B. in Paris und London, den zwei europäischen Metropolen, die in einem ähnlich großen Ausmaß wie München von Gentrifizierung, Verdrängung und Abwanderung der Kultur- und Kreativwirtschaft sowie einem brain drain der Graduierten der Kunsthochschulen bedroht sind. Das Bureau du Design, de la Mode et des Métiers d’Art Paris (beauftragt mit der Umsetzung der städtischen Politik zur Unterstützung kreativer Berufe) betreibt eigene Inkubatoren für junge Unternehmen und Selbstständige und unterstützt jedes Jahr darüber hinaus ca. 50 Unternehmen bei der Suche nach langfristig leistbaren Räumen in der Stadt.8 Die Stadt London hat im Jahr 2018 das Programm Creative Enterprize Zones ins Leben gerufen, dessen integraler Bestandteil die Bereitstellung von dauerhaft leistbaren Flächen für Künstlerinnen und Künstler, Kultur- und Kreativschaffende ist.9 Interessanterweise haben sich die in den ursprünglich neun Creative Enterprize Zones Londons beheimateten Akteurinnen und Akteuren während der Coronakrise resilienter als der Durschnitt der Selbstständigen und Unternehmen in London gezeigt, was kürzlich Anlass zu einer Ausweitung des Programms um weitere drei auf nunmehr zwölf solcher Zonen gab.

Bemerkenswert an der Konvergenz dieser kommunalen kulturwirtschaftlichen Förderung ist dabei auch, dass es allen drei europäischen Metropolen um langfristig leistbare Arbeits- und Produktionsräume geht, ohne dass das Hypewort Zwischennutzung auch nur auftaucht: Die Zeit, in der Zwischennutzungen von irgendwie leer fallenden Immobilien attraktiv erschien, scheint vorbei zu sein. Nur in sehr seltenen Fällen erfüllen Zwischennutzungen die Raumanforderungen für ästhetische Kreativität. Eine Innovation auf dem Markt für Gewerbeimmobilien sollte nicht mit einer ästhetischen Innovation verwechselt werden. Es sei denn, die besonderen leerfallenden Immobilien bieten eine Chance für einen außergwöhnlichen Ort, der durch eine künstlerische, kulturelle oder kreativwirtschaftliche Intervention seinen Charakter ändert und die Wahrnehmung irritiert.

Sozialform Stadt

Die drei europäischen Metropolen Paris, London und München machen aber darüber hinaus auch darauf aufmerksam, dass die Funktionen ästhetischer Kreativität in Metropolen clustern. Wir befinden uns in einem säkularen Strukturwandel der sich immer stärker kulturalisierenden wissensintensiven Gesellschaft, der die Clusterung kreativitätskritischer Funktionen und Ressourcen in urbanen Zentren bevorzugt und beschleunigt. Diese Renaissance einer „urban economy“ im Kontext des „cultural-cognitive capitalism“ (Scott 2008)10 hat sehr viel mit den Eigenschaften von Metropolen zu tun. Die Großstadt ist gleichsam das natürliche Habitat der Kultur- und Kreativwirtschaft: Mit ihrer Dichte und Vielfalt an Sinnesreizen, Begegnungen und Überraschungen bietet sie dem Kreativitätsprozess eine Dichte und Vielfalt an Irritationen durch das Unbekannte und Fremde,11 die das Vorstellungsvermögen und die Imaginationskraft für das noch ungesehene, ungehörte, oder ungefühlte Ästhetische produktiv massieren. Oder anders formuliert: Prinzipielle Fremdheit und Unvertrautheit der Großstadt fungieren als eine nichtversiegende Quelle des Kreativrohstoffs „irritierende Überraschungen“, die anschließend zu Inspirationen für ästhetische Kreativität umgearbeitet werden. Je größer, je dichter, je vielfältiger eine Stadt, desto besser sind daher sowohl die Arbeits- und Produktionsbedingungen der Kultur- und Kreativschaffenden – Stichwort Inspiration, Austausch, Netzwerk und Image – als auch die Rezeptionsbedingungen für ihre Kulturprodukte – Stichwort Inwertsetzung, Sichtbarkeit und Kundennähe. Mit diesen Eigenschaften ziehen Großstädte Kultur- und Kreativschaffende gleichsam magisch an, die hier die von ihnen präferierten urbanen Bedingungen für Inspiration, Umsetzung, Valorisierung und Absatz für ihre neuen, in Form gebrachten ästhetischen Ideen suchen und finden. Verstärkt wird diese gleichsam natürliche Anziehungskraft, wenn es in einer Stadt Institutionen der tertiären Bildung in schöpferischen Berufen gibt.

Aufgrund großstädtischer Ausgangsbedingungen von Dichte und Vielfalt entstehen ortsspezifisch kreative Milieus. Diese sind gekennzeichnet durch ein Netzwerk persönlicher Beziehungen zwischen Kreativ- und Kulturschaffenden, ihren Dienstleisterinnen und Dienstleistern und ihrer Kundschaft mit einer hohen Frequenz an wechselseitigem Austausch in persönlichen Interaktionen bei einer hohen physischen und virtuellen Konnektivität mit der Weltgesellschaft. Die Formen des Austauschs reichen von Inspiration und Information über Klatsch, Geselligkeit und Gunsterweisen. Aus dem Medium der Netzwerke persönlicher Beziehungen können sich aber immer wieder auch stärker formalisierte wirtschaftliche Transaktionen und formale Vertragsbeziehungen bis hin zu in weltgesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge eingebettete lokalisierten Wertschöpfungsketten bilden. Diese Kreativnetzwerke kombinieren die Vorteile räumlicher Nähe und persönlicher Bekanntschaft einerseits mit prinzipieller Fremdheit und Unvertrautheit der Großstadt und weltgesellschaftlicher Konnektivität andererseits.

Auch auf dieser Flughöhe der Bestimmung des allgemeinen Zusammenhangs zwischen der Bildung kreativer Milieus und den besonderen Eigenschaften von Metropolen lassen sich also allgemeine Antworten für eine raumbezogene kommunale Kulturwirtschaftspolitik der Kreativitätsförderung finden: Eine kluge kommunale Kontextsteuerung hilft, kreative Milieubildungen noch zusätzlich zu steigern.12 Wir können in räumlicher Verdichtung Möglichkeitsräume erschaffen, die die Konfrontation mit irritierenden Überraschungen ebenso wahrscheinlicher werden lassen wie die Ausbildung von Netzwerken auf Basis persönlicher Beziehungen, während zugleich einerseits institutionalisierte Bedingungen für die Einbettung dieser Möglichkeitsräume in formale Kontexte unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder wie z. B. Politik und Bildung geschaffen werden müssen wie andererseits die Durchlässigkeit dieser Möglichkeitsräume gegenüber eher informellen lebensweltlichen Milieus wie jugendliche Subkulturen oder migrantische Gemeinschaften, aus denen regelmäßig Impulse für ästhetische Kreativität kommen, gesichert werden sollte. Letztlich geht es darum, in all diesen Hinsichten die Bedingungen für Muße, Irrtum und Serendipität zu schaffen, also dem nichtplanbaren Zufall eine Chance zu geben. Mit anderen Worten: Es geht darum, nicht nur Schnittstellen des kultur- und kreativwirtschaftlichen Milieus mit sich selbst zu schaffen, sondern vielmehr zu allen anderen gesellschaftlichen Kontexten, aus denen überraschende Irritationen und interessante persönliche Beziehungen erwachsen könnten.

Kommunale Kontextsteuerung erschöpft sich auf der Ebene der Sozialform Stadt aber nicht in Maßnahmen zur Verstärkung eines kultur- und kreativwirtschaftlichen Milieus. Im Sinn einer Arbeit an der Stadtidentität und am Stadtimage schließt sie auch immer die Arbeit am Image, Selbstverständnis und der Stadtidentität mit ein – wie z. B. durch Maßnahmen, die eine im Raum der Weltgesellschaft lokalisierte Stadt als Standort für herausragende ästhetische Kreativität kommunizieren.

Wie bereits weiter oben gezeigt, kann die Umsetzung dieser allgemeinen Ideen der raumbezogenen kommunalen Kontextsteuerung auch in einem engeren Sinn eine räumliche Form annehmen, nämlich architektonischen und organisationalen Ausdruck wie z. B. im transdisziplinären Ruffinihaus Creative Hub München finden, in dem 24 Unternehmen und Selbstständige aus der Kultur- und Kreativwirtschaft an der Weiterentwicklung ihrer Geschäftsmodelle arbeiten. Oder diese Idee wird in einem größeren Maßstab als Quartier gedacht und als städtebauliches Ziel verfolgt wie im Kreativlabor am Leonrodplatz in München. Die Unterstützung der Verdichtung von Interaktion und Kommunikation zwischen Individuen, die ein Interesse an Kreativität haben, hat neben dieser räumlichen auch eine zeitliche und soziale Komponente: Es geht um die Gestaltung von Schnittflächen zwischen unterschiedlichen Netzwerken mit ihren unterschiedlichen Netzwerkkulturen. Die Gestaltung von Schnittstellen zwischen dem kultur- und kreativwirtschaftlichen Milieu und anderen gesellschaftlichen Feldern oder lebensweltlichen Milieus ist leichter gesagt als getan. Schon die Gestaltung von Schnittstellen für den Austausch zwischen den Netzwerken der einzelnen kultur- und kreativwirtschaftlichen Teilmärkten ist eine Herausforderung, die aber umso besser gelingt, je mehr es gelingt, architektonisch gestaltete Räume zu schaffen, die zufällige Begegnungen zwischen ihren Vertreterinnen und Vertretern wahrscheinlicher werden lassen, und je mehr es gelingt, eine (temporäre) Kulturform z. B. während Events oder auf Festivals zu schaffen, in der man nicht nicht netzwerken kann.

Der Zugang zu den Netzwerken der kultur- und kreativwirtschaftlichen Milieus muss jenseits einer professionell über Berufsverbände etc. vermittelten Zugänglichkeit auch informell für professionelle „Außenseiter“ offengehalten werden, wenn ein kreatives lokales Milieu verstärkt werden soll. Wie öffnet sich z. B. ein professionell definiertes Netzwerk für Kultur- und Kreativschaffende mit einer nicht formalisierten Bildungskarriere z. B. aus jugendlichen Subkulturen oder der migrantischen Gemeinschaft? Die Aufgabe, für solche spezifischen Schnittstellen geeignete Orte, Raumformen und Betriebsmodelle zu finden, steckt m.E. noch in den Kinderschuhen. Ebenso übrigens wie die Gestaltung von geeigneten Schnittstellen zwischen den kultur- und kreativwirtschaftlichen Milieus und den stärker formalisierten gesellschaftlichen Feldern wie der Wissenschaft, Politik und Verwaltung. Wir haben gerade erst angefangen, damit zu experimentieren, wie wir Muße, Irrtum und Zufall in unseren Städten mehr Raum geben, um in einer wohlverstandenen Kulturwirtschaftspolitik die Bedingungen für ästhetische Kreativität zu verbessern.


  1. Blumenberg, Hans: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 104. ↩︎
  2. Raichle, Marcus E. et al.: A default mode of brain function. In: PNAS, Vol. 98, No. 2, 2001, S. 676 – 682. ↩︎
  3. Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure. Glencoe Il: The Free Press 1957, S. 12. ↩︎
  4. Csikszentmihalyi, Mihály: A Systems Perspective on Creativity, in: R. Sternberg (Ed.), Handbook of Creativity, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 313 – 335. ↩︎
  5. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Die textile Kunst: für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a. M.: Verl. für Kunst und Wiss., 1860. ↩︎
  6. Siehe Landeshauptstadt München: Kreativquartier, 2024 https://stadt.muenchen.de/infos/kreativquartier-muenchen.html [zuletzt aufgerufen: 01.05.2024]. ↩︎
  7. Siehe Landeshauptstadt München: Kreativquartier: Generalinstandsetzung von Jutier- und Tonnenhalle, 04.07.2019, http://ru.muenchen.de/2019/125/Kreativquartier-Generalinstandsetzung-von-Jutier-und-Tonnenhalle-85700 [zuletzt aufgerufen: 01.05.2024]. ↩︎
  8. ebd. ↩︎
  9. Siehe Mayor of London: The Creative Enterprise Zones programme, 2024, https://www.london.gov.uk/programmes-strategies/arts-and-culture/space-culture/explore-creative-enterprise-zones [zuletzt aufgerufen:01.05.2024]. ↩︎
  10. Siehe zum Begriff des „cultural-cognitive capitalism“ die Überlegungen in Allen J. Scott, Social Economy of the Metropolis: Cognitive-Cultural Capitalism and the Global Resurgence of Cities. Oxford: Oxford University Press 2008, und zum Phänomen der zunehmenden Kulturalisierung des Sozialen die Überlegungen bei A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017. ↩︎
  11. Siehe für die Bestimmung der Stadt durch die Aspekte des Unbekannten, Fremden und Unvertrauten im Anschluss an Überlegungen von Max Weber und Georg Simmel die Ausführungen bei D. Baecker, Miteinander leben, ohne sich zu kennen: Die Ökologie der Stadt. In: Soziale Systeme 10 (2004), S. 257 – 272. ↩︎
  12. Die obigen Ausführungen sind auf die kommunale Kontextsteuerung in Metropolen bzw. Großstädten gemünzt. Klein- und Mittelstädte haben andere, stadtgrößentypische Eigenschaften und Bedingungen. Siehe für eine Konzeption eines Programms der kulturgeleiteten Stadtentwicklung von und der Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft in mittelgroßen Städten im Europäischen Vergleich meine Ausführungen in: Olaf Kranz (Hg.): Cultural and Creative Industries Repository for Small and Medium Sized Cities. Handbook within the StimulART project Interreg Central Europe, Regensburg and Jászberény 2022, https://programme2014-20.interreg-central.eu/Content.Node/STIMULART/CCI-handbook-stimulart-FINAL.pdf [zuletzt aufgerufen: 01.05.2024]. ↩︎