Anna Heringer | Studio Anna Heringer
Anna Heringer, Architektin und Honorarprofessorin, ist in Laufen aufgewachsen und hat einen prägenden Teil ihrer Jugend in Bangladesch verbracht, wo sie erstmals mit nachhaltiger Entwicklungsarbeit in Berührung kam. Ihre Philosophie ist es, auf vorhandene Ressourcen zu vertrauen und das Beste daraus zu machen. Seit 2005 setzt sie diese Philosophie in ihrer Architekturarbeit um, indem sie natürliche Baumaterialien verwendet. Ihr bekanntestes Projekt, die METI-Schule in Rudrapur, gewann 2007 den Aga Khan Award for Architecture. Sie hat auch in anderen Teilen der Welt, einschließlich Asien, Afrika und Europa, Projekte realisiert. Ihre Arbeiten wurden international anerkannt und mehrfach ausgezeichnet.
Anna Heringer
Bildnachweis: Gerald von Foris
Meine Projekte sollen nicht nur Gebäude sein, sondern auch als Katalysator für lokale Entwicklung wirken. Mir liegt daran, dass sie einen Mehrwert für die gesamte Region schaffen und nicht nur für wenige Menschen relevant sind.
Anna Heringer
Liebe Frau Heringer, 2021 wurde Ihr Projekt, das RoSana Waldhaus in Rosenheim, das Sie zusammen mit Ihrem Kollegen Martin Rauch entworfen haben, mit dem New European Bauhaus Prize in der Kategorie „Solutions for the Co-evolution of Built Environment and Nature“ ausgezeichnet. Möchten Sie uns von dem Projekt und davon, was es für Sie besonders macht, erzählen? Wie definiert dieses Projekt die Verbindung zwischen Architektur und Natur neu?
Ja, das Gebäude in Rosenheim, das ich gemeinsam mit Martin Rauch entworfen habe, ist ein besonderes Projekt. Es befindet sich auf einem sensiblen Grundstück in der Nähe des Flusses Mangfall, das an den Auwald grenzt. Das Gebäude ist buchstäblich aus dem Auwald entstanden. Daher ist das primäre Material leimfreies Holz. Die Fassade besteht in Teilen aus einem unbehandeltem Weidengeflecht, das natürlich belassen wurde, ohne Chrombehandlung und Ähnlichem. Und im Innenraum gibt es ganz viel Lehm. All diese Materialien führen zu einer gelungenen Integration in die natürliche Umgebung. Das Gebäude ist mehr als nur Architektur – es wirkt vielmehr wie ein Nest im Auwald, besonders durch das Weidengeflecht. Es dient als Gästehaus für ein ayurvedisches Gesundheitszentrum und erntet viel positives Feedback von den Nutzerinnen und Nutzern. Beim Betreten entsteht nicht das übliche Gefühl von der Natur abgeschnitten zu sein. Stattdessen bleibt eine spürbare Verbindung zur Natur bestehen, was den Heilungsprozess unterstützt. Die Räume sind bewusst klein gehalten, etwa 14 Quadratmeter groß. Wir wollten mit dem Gebäude beweisen, dass es wichtig ist, sich von der Idee zu lösen, dass Luxus eine Frage der Quadratmeter ist. Stattdessen setzen wir auf Qualität, hochwertige Materialien und Handwerkskunst. Die verwendeten Materialien wie Lehm, Holz und Weiden sind nicht nur umweltfreundlich, sondern auch gesund für den Menschen. Zudem tragen sie zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei, was letztlich auch der Gesellschaft zugutekommt.
Welche Lehren können andere Architektinnen und Architekten daraus ziehen?
Wir müssen beim Bauen in die Zukunft schauen. Und sicherstellen, dass das, was wir bauen, wirklich qualitativ hochwertig ist. Und insgesamt weniger bauen. Denn es ist unsinnig, immer in diesem Maße weiterzumachen, ohne die langfristigen Auswirkungen zu berücksichtigen.
Um noch etwas weiter auszuholen: Es ist wichtig, unsere Sensibilität für unsere Umgebung zu schärfen. Oft bemerken wir den charakteristischen „neuen“ Geruch in Neubauten, der eigentlich auf toxische Ausdünstungen hinweist. Doch sollten wir das nicht einfach akzeptieren. Wir achten auf unsere Ernährung und biologische Produkte, bedenken bei Kleidung, dass Chemikalien durch die Haut aufgenommen werden können. Gleiches gilt für die Materialien in unseren Wohn- und Arbeitsräumen. Ausdünstungen von Schaumstoffen, Silikonen, Klebstoffen und Lacken können Allergien verursachen und unsere Gesundheit beeinträchtigen. Es ist an der Zeit, uns bewusst zu machen, welche Materialien wir verwenden und welche Auswirkungen sie auf uns und unsere Umwelt haben.
Der Stampflehm verleiht den Räumen mit seiner ruhigen Präsenz eine einzigartige Atmosphäre, eine archaische Urkraft, die spürbar ist, ohne dominierend zu wirken. In Kombination mit feinen Lehmputzen, die eine fast samtige Anmutung haben, sowie dem natürlichen Holz und den lebendigen Lehm-Kaseinböden, die beinahe cremig wirken, entsteht ein harmonischer Gesamtklang der Materialien. Dieser vermittelt sofort ein Gefühl des Wohlbefindens und trägt zur angenehmen Atmosphäre der Räume bei.
Es ist vergleichbar mit dem Genuss von gutem Essen – Qualität steht über Quantität. Genauso verhält es sich mit dem Wohnraum: Hochwertige, sorgfältig ausgewählte Materialien und eine durchdachte Gestaltung machen den Unterschied, nicht unbedingt die Größe des Raumes. Wir sollten uns bewusst sein, dass jeder Bau Spuren hinterlässt. Daher ist es wichtig, bei Neubauten auf natürliche, reparaturfähige Materialien zu setzen, die mit der Zeit schön altern.
Ein zentrales Problem liegt darin, dass diese Materialien aufgrund des hohen handwerklichen Inputs oft teurer sind. Dies steht im Widerspruch zur traditionellen Bauweise, wo die Verwendung lokaler Materialien historisch gesehen die kostengünstigste und nachhaltigste Option war. Dass im globalen Süden das Bauen mit Lehm immer noch die billigste Bauart ist, beweist, dass das Bauen mit natürlich vorhandenen Baustoffen das nächstliegende ist. Unser Steuersystem berücksichtigt jedoch nicht immer diese Logik, die auf gesundem Menschenverstand und Nachhaltigkeit basiert. Es geht nicht darum, dass natürliche Materialien teuer sind, sondern darum, dass industriell und oftmals unter hohem Energieaufwand hergestellte Materialien zu wenig besteuert werden.
Hier sollte man dringend ansetzen, um nachhaltiges Bauen attraktiver und erschwinglicher zu machen. Materialien, die der Natur und der Gesundheit schaden, müssen besteuert werden, um ihre tatsächlichen Kosten widerzuspiegeln und das Entsorgungsproblem nicht auf zukünftige Generationen abzuwälzen. Oft erscheinen diese Materialien auf den ersten Blick günstig, aber langfristig ist es viel teurer, die damit verbundenen Probleme zu ignorieren oder zu verschieben. Deshalb ist es dringend notwendig, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Ich fordere meine Kolleginnen und Kollegen dazu auf, sich gemeinsam für nachhaltige Bauvorhaben einzusetzen, um die negativen Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren und die Lebensqualität für kommende Generationen zu erhalten. Es liegt in unserer Verantwortung, jetzt zu handeln und sicherzustellen, dass unsere Bauvorhaben wirklich nachhaltig sind. Das schaffen wir nur miteinander.
Sie werden auch als „Vorreiterin des Nachhaltigen Bauens“ bezeichnet, Sie sind Inhaberin des UNESCO-Lehrstuhls für Lehmarchitektur, Baukulturen und nachhaltige Entwicklung. Glauben Sie, der Grundsatz „Back to the Roots“ ist der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit in der Architektur?
Wir sollten zurück zum gesunden Menschenverstand, zurück zu dem ursprünglichen Wissen, dass jede Kultur das Beste aus den natürlich vorhandenen Materialien gemacht hat, und diese mit moderner Formensprache veredeln. Man muss nicht ins Mittelalter zurückzugehen, um ökologisch zu leben. Zeitgemäßer Lebensstandard und eine zeitgenössische Formensprache können durchaus auf natürlichen Materialien basieren. Die Frage ist, wie wir zu einer zufriedenen Genügsamkeit gelangen können.
Eine glückliche Genügsamkeit bedeutet, genau zu prüfen, was wirklich benötigt wird, und den Rest loszulassen. Gut proportionierte Räume und die Reduktion auf das Notwendigste fördern ein zufriedenes Leben. Oft bauen Menschen aus Angst vor Mangel oder Veränderung zu groß. Diese Angst ist einer der Hauptgründe, warum wir nicht nachhaltiger bauen.
Wir müssen erkennen, dass wir bereits alles haben, was wir brauchen, und das Vertrauen haben, dass ein gutes Leben möglich ist. Nachhaltigkeit ist keine Frage technischer oder finanzieller Möglichkeiten, sondern eine Frage der inneren Haltung und Einstellung. Es geht darum, aus einem Gefühl der Liebe heraus zu handeln, sei es anderen Menschen gegenüber oder der Natur. Wenn wir aus Liebe handeln, geschieht Nachhaltigkeit auf natürliche Weise. Wir müssen unsere Ängste loslassen und verstehen, dass gute Architektur und Schönheit, im Kern, ein Ausdruck von Liebe sind und viel bewirken können.
Zusammen mit vielen anderen Architektinnen und Architekten haben Sie das „Laufen Manifesto for a Humane Design Culture“ ins Leben gerufen. Dabei geht es um eine menschliche Designkultur. Was bedeutet menschliches Design und warum ist es wichtig? Welche Rolle spielt das Ästhetische?
Wir betrachten den Menschen als Teil der Natur und nicht als das Zentrum des Universums. Ich persönlich verwende auch den Begriff „Mitwelt“ lieber als „Umwelt“. In der Debatte um Nachhaltigkeit spielt Ästhetik eine wichtige Rolle. Bei der Gestaltung von Gebäuden müssen wir nicht nur funktional denken, genauso wichtig ist es, etwas mit Sorgfalt und Hingabe zu gestalten.
Für mich bedeutet Schönheit, dass alles im Einklang ist, einschließlich des Entstehungsprozesses. Der Weg, wie ein Gebäude entsteht, ist genauso wichtig wie sein endgültiges Design. Das ist mein Lieblingssatz aus dem Laufen Manifesto. Es geht nicht nur darum, wie das Gebäude aussieht, sondern auch darum, wie es sich in seine Umgebung einfügt und welche Materialien verwendet werden. Diese Harmonie zwischen Materialien, Gebäude und Natur verleiht dem Bauwerk eine Strahlkraft, die über das rein Formale hinausgeht. Diese authentische Schönheit und Strahlkraft wird zum Beispiel im Kontext des „Laufen Manifesto for a Humane Design Culture“ diskutiert.
Ihre Projekte haben oft einen gemeinnützigen Hintergrund. So haben Sie unter anderem schon an Schulen, Ausbildungszentren und Kindergärten gebaut. Man könnte sagen, Nachhaltigkeit spiegelt sich nicht nur in der Bauweise Ihrer Projekte wider, sondern auch in dem Ziel, die nachhaltige Entwicklung der lokalen Communities zu fördern. Wie wichtig ist Ihnen dieser soziale Aspekt bei Ihren Projekten?
Ein konkretes Beispiel aus Bangladesch verdeutlicht diese Prinzipien besonders anschaulich: Die Tagelöhner und Bauarbeiter, die am Bau beteiligt sind, investieren einen Teil ihres Lohns unmittelbar zurück in die lokale Wirtschaft. Sie kaufen Gemüse von den Bäuerinnen und Bauern, lassen ihre Fahrräder reparieren und gönnen sich vielleicht sogar ein maßgeschneidertes Hemd beim örtlichen Schneider.
Meine Projekte sollen nicht nur Gebäude sein, sondern auch als Katalysator für lokale Entwicklung wirken. Mir liegt daran, dass sie einen Mehrwert für die gesamte Region schaffen und nicht nur für wenige Menschen relevant sind. Die Wahl der Materialien bestimmt nicht nur, wer letztendlich von dem Projekt profitiert, sondern auch die ökologischen Folgen für den Planeten. Die Architektur speist sich aus einer enormen Masse an Ressourcen und damit trägt sie auch große Verantwortung. Denn diese Masse kann zerstörerisch wirken, insbesondere auf unserem Planeten, und zu sozialer Ungleichheit führen. Als Architektinnen und Architekten haben wir daher die Möglichkeit, wichtige Weichen zu stellen.
Ich betrachte es als meine Verantwortung als Architektin, sicherzustellen, dass die Ressourcen und Mittel, die für meine Bauprojekte verwendet werden, tatsächlich dazu beitragen, den Mittelstand oder die ärmeren Schichten zu unterstützen. Wir müssen darauf achten, dass unsere Arbeit nicht dazu beiträgt, die soziale Kluft weiter zu vertiefen, sondern vielmehr zur Schließung dieser Kluft beiträgt.
Auf Ihrer Homepage ist zu lesen, dass es Ihre Motivation ist, Architektur zu nutzen, um das kulturelle und individuelle Selbstbewusstsein der Menschen zu stärken. Wie schaffen Sie es, dies umzusetzen? Wie fließt diese Motivation in Ihre Arbeit ein?
Bei meinen Projekten ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Selbstwirksamkeit zu stärken. In unserer Gesellschaft war es früher normal, dass das „Bauen“ – sei es einer Kirche, einer Schule oder anderer öffentlicher und privater Gebäude – ein Gemeinschaftsprojekt war. Unsere Städte sind größtenteils durch gemeinschaftliche Arbeit entstanden, was die Bindung und die Zusammengehörigkeit gestärkt hat. Diese Erfahrung habe ich auch als Jugendliche bei den Pfadfindern gemacht; gemeinschaftliches Bauen hat uns „empowert“ und zusammengeschweißt.
Diese Idee der Zusammenarbeit versuche ich in all meinen Projekten zu verwirklichen. Ich möchte den Menschen ermöglichen, im Rahmen des Projekts ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten und für die Gemeinschaft einzusetzen. Ein aktuelles Beispiel ist mein Projekt in Traunstein, bei dem die zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer an einem Teilbereich des Baus mitwirken, indem sie Sitzgelegenheiten aus Lehm gestalten.
Statt auf äußere Quellen der Befriedigung zu setzen, möchte ich Menschen dazu ermutigen, ihre eigenen Ressourcen und Potenziale zu erkennen und zu nutzen. Denn wahre Erfüllung und Zufriedenheit entstehen meines Erachtens nicht durch den Besitz materieller Güter, sondern durch die Entfaltung des eigenen Potenzials und die Verbindung mit anderen Menschen und der Natur.
Wir sollten erkennen, dass es nicht nur darum geht, mit fertigen Dingen konfrontiert zu werden; vielmehr sollten wir die Möglichkeit haben, aktiv mitzuwirken und unsere Spuren zu hinterlassen. Das Spüren eigener Kräfte, die Teilhabe an Entscheidungen und der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sind grundlegende menschliche Bedürfnisse, die wir nicht ständig vernachlässigen sollten. Dies wird besonders deutlich bei Kindern, die von Natur aus den Drang haben zu bauen und zu gestalten. Es ist Teil unserer menschlichen Natur, und es tut uns nicht gut, diese Bedürfnisse zu unterdrücken.
Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen und aktiv an der Gestaltung unserer Zukunft arbeiten. Lehm bietet sich hierbei als perfektes Material an, da es sehr inklusiv ist. Es erfordert lediglich unsere Hände – teure Werkzeuge sind nicht unbedingt erforderlich. Dadurch wird das Verletzungsrisiko deutlich reduziert. Zudem ist Lehm ungiftig und fühlt sich angenehm an. Aus diesen Gründen arbeite ich besonders gerne mit diesem Material.
Wie beurteilen Sie persönlich die New European Bauhaus Initiative und welche Auswirkungen erwarten Sie hinsichtlich der Förderung von nachhaltiger und ästhetisch ansprechender Architektur und Gestaltung in der Zukunft?
Die Entwicklung von Projekten ist oft erfolgreicher, wenn sie von der Basis, also von den Menschen vor Ort, ausgeht. Dennoch ist es entscheidend, dass von oben her die Rahmenbedingungen geändert werden, damit diese Entwicklungen wirklich umgesetzt werden können. Kostenwahrheit spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Alle negativen Auswirkungen auf die Natur müssen bei Besteuerung und Bepreisung berücksichtigt werden, sei es die Reparierbarkeit, die Menge an Müll oder die CO2-Emissionen. Was der Natur und nicht zuletzt auch dem Menschen schadet, darf nicht billig und subventioniert sein.
Wir können nicht die soziale Karte gegen die nachhaltige spielen, wie es oft in der Politik geschieht. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass alles, was nicht ökologisch nachhaltig ist, auch nicht sozial ist. Die Politik sollte daher aufhören, dieses Spiel zu spielen und Rahmenbedingungen setzen, die nachhaltiges Bauen fördern. Initiativen wie das New European Bauhaus sind ein Schritt in die richtige Richtung. Es wird immer wichtiger, sich bewusst zu machen, dass Bauvorhaben einen enormen Einfluss auf die Zukunft und das Überleben unseres Planeten haben. Dadurch rücken auch das Kulturelle und die Schönheit in den Fokus, nicht mehr als Nebensächliches, sondern als Grundbedürfnisse des Menschen. Dies ist äußerst erfreulich und sollte weiterhin vorangetrieben werden.
Neben Ihrer Tätigkeit als Architektin haben und hatten Sie auch mehrere Gastprofessuren, darunter in Harvard, Zürich und München inne. Sehen Sie in den nachkommenden Generationen junger Architektinnen und Architekten ein anderes Bewusstsein für das Thema Nachhaltigkeit?
Ja, das Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung ist bereits stark ausgeprägt. Dies geht Hand in Hand mit dem starken Wunsch, sinnvolle Projekte zu realisieren und nicht nur oberflächliche Ergebnisse zu erzielen. Es geht darum, langfristige Werte zu schaffen und einen positiven Beitrag zur Gesellschaft und zur Umwelt zu leisten.
Welche Bedeutung messen Sie der Architektur bei, wenn es darum geht, eine Zukunft zu gestalten, die auf Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein basiert? In welche Richtung entwickelt sich Architektur? Was prägt die gebaute Welt der Zukunft?
Die Architektur und der umfangreiche Bauaufwand tragen zu enormen Auswirkungen bei, und es liegt in unserer Verantwortung, uns dessen bewusst zu sein. Besonders besorgt bin ich über die Förderung standardisierter Materialien durch bestimmte Interessengruppen, die zum Teil auch Normen beeinflussen. Das führt zu einer zunehmenden Vereinheitlichung und dem Rückgang individueller Baukulturen und macht einfaches Bauen schwer. Diese Entwicklung muss meiner Meinung nach kritisch hinterfragt werden, da sie potenziell negative Auswirkungen auf die Vielfalt und Nachhaltigkeit unserer gebauten Welt der Zukunft hat. Ein weiteres Problem ist die oft unreflektierte Anwendung von Regeln und Normen im Baugewerbe. Beispielsweise führt der Brandschutz manchmal dazu, dass Gebäude abgerissen werden, um Sicherheitsstandards zu erfüllen. Dies ist nicht nur eine Verschwendung von Ressourcen, sondern trägt auch zum Klimawandel bei. Wir sollten daher vermehrt auf unseren gesunden Menschenverstand vertrauen und bestehende Ressourcen nutzen, anstatt immer nur neu zu bauen und Materialien oft über weite Wege zu importieren.
Wir haben genügend natürlich vorhandene Ressourcen, allen voran den Lehm. Derzeit kippen wir dieses wertvolle Baumaterial, das überall beim Bau von Tiefgaragen, U-Bahnen, aller Art von Fundamenten anfällt, einfach weg und bezahlen sogar noch für dessen Entsorgung. Und gleichzeitig sind wir händeringend auf der Suche nach dem „grünen Beton“. Den gibt es schon: Das ist der Stampflehm. Projekte wie der Campus St. Michael in Traunstein, das RoSana in Rosenheim oder der Lehm Campus in Ghana demonstrieren eindrucksvoll, wie gesunde, ästhetische und nachhaltige Architektur mit regionalen Ressourcen umgesetzt werden kann. Ich glaube fest daran, dass wir dazu in der Lage sind.
Die globale Gemeinschaft steht vor drängenden Fragen, wie der Erhalt der Umwelt und die Sicherung einer nachhaltigen Zukunft. Wie können Architektinnen und Architekten und Designerinnen und Designern eine aktivere Rolle in diesen globalen Diskussionen einnehmen? Welche Vision haben Sie für die Zukunft der Architektur und des Designs in Bezug auf die Übernahme neuer Verantwortungen?
Als Architektinnen und Architekten liegt es in unserer Verantwortung, die Wahl der Materialien bewusst zu treffen. Wenn finanzielle Einschränkungen bestehen, müssen wir weniger verwenden und noch effizienter planen. Designerinnen und Designer, Architektinnen und Architekten sollten in der Lage sein, „Nein“ zu sagen, wenn etwas nicht machbar ist. Leider gerät die Übernahme dieser Verantwortung oft in den Hintergrund, aber wir müssen lernen, sie wieder zu übernehmen
Wie sieht eine optimale Zusammenarbeit zwischen Architektinnen und Architekten, Designerinnen und Designern und anderen Interessengruppen aus, um eine nachhaltige und ethisch verantwortliche gebaute Umwelt zu schaffen?
In der Region Vorarlberg zum Beispiel, wo ich auch schon bauen durfte, sind Handwerkerinnen, Handwerker, Bauherrschaft und Planerinnen und Planer wirklich gleichberechtigt und treffen gemeinsam Entscheidungen. So entstehen optimale Bedingungen für Innovationen. Innovation kann nur geschehen, wenn man auch Risiken eingeht und Verantwortung übernimmt. Angesichts der aktuellen Herausforderungen ist Innovation dringend erforderlich. Die Beziehungen zwischen Ausführenden, Planerinnen und Planern sowie der Bauherrschaft sind entscheidend für eine gute Zusammenarbeit. Handwerkerinnen und Handwerker verfügen oft über ein tieferes Verständnis für Materialien und können realistisch einschätzen, was machbar ist und was nicht. Im Falle von Problemen wird gemeinsam nach Lösungen gesucht. Es geht darum, ein kalkuliertes, überschaubares Risiko einzugehen und dann sicherzustellen, dass man es gemeinsam bewältigt. In diesem Prozess geht es nicht darum, Schuld zuzuweisen, sondern um eine enge und gleichberechtigte Zusammenarbeit sowie einen konstruktiven Austausch auf Augenhöhe, die Schlüssel für echte Innovation sind.
Wie unterscheidet sich die Auseinandersetzung mit Fragen der Nachhaltigkeit im Bau von Kontext zu Kontext? Was können wir in Bayern von anderen Ländern lernen?
Ein bemerkenswertes Phänomen in Deutschland und Bayern ist die Tendenz, bei Problemen sofort nach Schuldigen zu suchen. Im Gegensatz dazu liegt in Vorarlberg oder Ghana der Fokus eher darauf, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Es ist entscheidend, sich zu trauen und auch mal unkonventionelle Wege zu gehen, mehr „qualifiziert bei Rot über die Ampel“. Es geht darum, nicht stur den Vorgaben zu folgen, sondern vielmehr danach zu handeln, was intuitiv sinnvoll erscheint. Indem wir auf unser Herz hören und uns fragen, was wirklich Sinn macht, brechen wir aus den starren Regeln aus. Es erfordert Mut, aktiv zu werden und Risiken einzugehen, um echten Mehrwert durch Partizipation zu schaffen.
Sie arbeiten weltweit und haben unter anderem schon Projekte in Bangladesch, China und zuletzt auch in Oberbayern durchgeführt. Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, in immer neuen örtlichen und kulturellen Kontexten zu arbeiten?
Wenn ich in Bangladesch arbeite, ist meine Kompassnadel nach Intuition und gesundem Menschenverstand ausgerichtet. Aber in Deutschland muss ich stark aufpassen, damit nicht die Normen mein Handeln bestimmen. Deshalb arbeite ich oft mit Partnerinnen und Partnern zusammen, die die Normen im Blick haben – um mich nicht mit all diesen Vorschriften auseinandersetzen zu müssen, sondern um wirklich nach Intuition und gesundem Menschenverstand handeln zu können. Aber es kostet unglaublich viel Kraft. Als ich vor vielen Jahren in Harvard in Boston unterrichtet habe, ist mir bereits aufgefallen, wie dominant die Angst dort ist. Und nun kommen wir auch langsam in Deutschland dazu, dass Angst die dominante Emotion bei Entscheidungen ist. Das ist eine absolute Katastrophe. Die Grundlage des Entwerfens muss immer eine liebevolle Haltung sein, der Natur, den anderen und sich
selbst gegenüber. Andernfalls schaffen wir nur eine unfreundliche und unmenschliche Umgebung. Wir müssen Angst durch Liebe und Vertrauen ersetzen.
Die Herausforderungen in Deutschland liegen nicht nur in unserer Grundhaltung, sondern auch in den spezifischen Vorschriften im Bauwesen im Vergleich zu Ländern wie der Schweiz oder Österreich. Ein Beispiel ist die Berechnung von Teilen unserer Lehmfassade in Traunstein, für die wir keine Freigabe bekamen. Dasselbe Bauteil war in der Schweiz und in Österreich kein Problem. Und es gibt weitere seltsame Beispiele, wie z. B. Regeln für Absturzsicherungen. Diese suggerieren, dass wir Bayern doppelt so deppert sein müssen wie der Rest Deutschlands, weil bei uns schon die halbe Fallhöhe ausreicht, um sich den Hals zu brechen. Ich weiß auch nicht, manchmal kann man nur den Kopf schütteln. Es gehört ein allgemeines Ausmisten der Normen und Regeln her und dabei muss man sich in jedem Fall fragen: Wem nützt diese Regel? Und dabei darf die Natur nicht außer Acht gelassen werden.
Welches Ihrer vielen Projekte ist Ihnen bis heute am stärksten in Erinnerung geblieben?
Earth Campus, Tatale, Ghana Campus for Sustainability St. Michael, Traunstein, Deutschland
Der Earth Campus in Tatale, Ghana, und der Campus für Nachhaltigkeit St. Michael Traunstein, Deutschland, sind zwei meiner Projekte, die ich besonders schätze. Sie dienen als lebendige Beispiele dafür, wie nachhaltiges Bauen in verschiedenen Kontexten umgesetzt werden kann. Lehm als Baumaterial ist nicht nur im globalen Süden relevant, sondern bietet auch im globalen Norden eine Fülle von Möglichkeiten zur Schaffung ökologischer und ressourcenschonender Strukturen. Diese beiden Standorte verdeutlichen, dass Nachhaltigkeit keine geografischen Grenzen kennt und dass wir weltweit gemeinsam an Lösungen arbeiten können.